Nikotinherz

Wie unsere Autorin die perfideste Sucht der Welt überwinden wollte und herausfand, dass man die Schweizer Tabakpolitik rauchen kann.
NZZ am Sonntag, 17. März 2024

Es ist nicht so, dass man auf Entzug nur an den Stoff denkt, sondern dass man gar nicht mehr richtig denken kann. Meine Nervenzellen hatten sich in kreischende kleine Monster verwandelt. Wie kahlköpfige Babyvögelchen in einem Nest, die ihre Schnäbel aufsperrten und nur eines wollten: Nikotiiin.

Die Stelle an der Schulter, wo ich das Entwöhnungspflaster hingeklebt hatte, war heiss geworden und angeschwollen. Also hatte ich in den letzten Tagen die Klebestellen abgewechselt, und nun war mein ganzer Oberarm mit juckenden roten Beulen übersät. Einmal hatte ich es am Bauch probiert, es musste ja eine Stelle sein, die durch Kleider abgedeckt war, aber das war schlimm. Jetzt arbeitete ich mich an den Beinen empor, jeden Tag ein Pflaster, jeden Tag eine Beule. Alles juckte, alles brannte, alles raste.

Ich klappte meinen Rechner auf. Ich musste herausfinden, wie dieses Medikament nochmal hiess, ein Freund hatte mir davon erzählt. Ich hatte ihn zufällig auf dem Weg zur Arbeit getroffen. Er schleppte sich aus dem Untergrundbahnhof hoch, die Augenringe tief. Er hörte gerade auf zu rauchen, wieder einmal. Aber dieses Mal nahm er ein Medikament, das die Entzugssymptome unterdrückte. Dafür löste es abnorme, plastische Träume aus. «Horror», sagte er, «übles Zeug», er winkte ab. Sonstige Nebenwirkungen: Suizidgedanken, Depressionen, Angstzustände. Es war genau das, was ich jetzt brauchte. Ich fand eine Seite im Netz, die alles erklärte, Champix hiess es. Daneben stand eine Beratungsnummer, ich tippte. Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme. Ich würde sie nicht wieder vergessen.

Die Schwester von Koffein oder die Cousine von Koks?

Wenn man im Netz nach der Wirkung von Nikotin sucht, landet man meistens bei der Wirkung von Tabak. Als hätte jemand im ganzen Internet eine automatische Weiterleitung installiert. Tabakrauch ist, das bezweifelt heute niemand mehr, sehr gefährlich und höchst krebserregend. Da werden über 4000 chemische Stoffe inhaliert, von denen mindestens 40 das Erbgut angreifen. In der Schweiz sterben jeden Tag etwa 26 Menschen an den Folgen. Der Stoff, der süchtig macht, ist aber das Nikotin. Und wenn man sich die Beschreibungen von Nikotin durchliest, klingt das wie die Anleitung für ein besseres Leben: stimulierende Wirkung, Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit, Unterdrückung des Appetits, Wachheit, Verbesserung des Erinnerungsvermögens. Einmal Nikotin für alle, bitte, oder nicht?

Nikotin kommt daher wie die angesagtere Schwester von Koffein, dabei ist es eher die ältere Cousine von Koks. Nikotin schiesst innerhalb von Sekunden ins Hirn, der Dopaminspiegel zuckt, man fühlt sich praktisch sofort gut. Es sei der am stärksten abhängig machende Suchtstoff, den es gebe, sagen Fachleute. Zwei von drei Personen, die eine Zigarette rauchen, werden süchtig. Warum reden wir nie über Nikotin?

Ich war eine überschwängliche Raucherin, ich zelebrierte es, propagierte es, ich sah gut aus dabei, fand ich. Rauchen war ein Abenteuer, und von denen wollte ich alle. Unsere ersten Zigaretten klauten wir vom Fenstersims einer Scheune, wo sie ein Bauer vermutlich vor seiner Familie versteckt hielt. Ich kann nicht sagen, dass sie scheisse schmeckten, sie schmeckten nach Leben.

«Rauchen war das Versprechen, von hier wegzukommen, alles zu werden, nur nicht brav.»

Ich meinte später manchmal, wenn ich ein paar Stunden nicht geraucht hatte, beim ersten Zug wieder diese frühen Zigaretten zu schmecken, die Jugendsommer auf dem Land, der Geruch nach trocknendem Gras, der modrige See, die nackte Haut. Rauchen war das Versprechen, von hier wegzukommen, alles zu werden, nur nicht brav. Niemand aus meinem näheren Umfeld hatte geraucht. Nur die Brüder meines Vaters verwandelten die Familienweihnacht jeweils in eine irrwitzige Raserei zwischen Wohnzimmer und Balkon. Sicher dachte ich, auf der anderen Seite der Glastüre würden die interessanteren Gespräche geführt. Ich war drinnen und wollte draussen sein.

Die Jugend stellt sich rückblickend als eine einzige Jagd nach Dopamin-Kicks dar. Nikotin war die Basis. Ich dachte, ohne zu rauchen, könnte ich nicht schreiben, nicht kreativ sein, keinen Spass haben. Um die dreissig begann ich die Kater zu spüren. Der Geruch störte mich, die fahle Haut. Ich hörte auf zu rauchen und ersetzte es bald mit schwedischem Snus, Mundtabak. Das ging immer und überall. Als ich mir das erste Mal so einen Beutel unter die Lippen klemmte, wurde mir sofort schlecht. Später schraubte ich die Dosis wöchentlich hoch, um überhaupt noch etwas zu spüren.

Und dann kam jener Spätsommer in Ligurien, eine neue Liebe, ein Haus am Meer. Mir gingen die Snus aus, und ich hatte zu wenig Nikotinkaugummis mitgebracht. In Ligurien, sollte sich herausstellen, kannte man sich damit nicht aus. Ich spürte die Nervosität schon morgens in mir aufsteigen, googelte nach Nikotinsprays, Kaugummis, Mundtabak, Kautabak. Ich hörte kahlköpfige Vogelbabys. Ich rannte die ganze Küste hinauf und hinunter in jeden Laden und jede Apotheke, die ich finden konnte.

Irgendwann fing mein Freund an, aus Stuckrad-Barres Buch «Panikherz» zu zitieren, in dem er beschreibt, zu was für einem spiessigen Leben Sucht führt. «Wenn wir Spiessertum definieren als totale, zwanghafte Regelmässigkeit, die nichts so fürchtet wie Varianten und Abwechslung.» Mein Freund meinte es nicht böse. Er beobachtete mich eher – interessiert. Am Ende dieses Tages sass ich am Strand und nuckelte an einer dieser lächerlichen Vape-Zigaretten mit Erdbeergeschmack und wusste, dass der Moment gekommen war. Nach dem körperlichen Entzug könnte es ja nicht schlimmer werden, dachte ich.

Und dann rief die Frauenstimme tatsächlich wieder an. Catherine Abbühl, seit dreissig Jahren Suchtberaterin, langjährige Leiterin der Rauchstopplinie (0848 000 181), ich war auf einen Profi gestossen. Ich konnte es nicht fassen, dass sie sich wirklich nach mir erkundigte, pünktlich, kostenlos, fachkundig, mit dieser Stimme wie aus einer Mediations-App. Sie hatte mich nach meinem ersten Anruf auf eine ordentliche Nikotinpflaster-Kaugummi-Kombination eingestellt und «meine Ressourcen gestärkt», das würde ich später erfahren. Jetzt sprachen wir über den Hirnstoffwechsel, darüber, wie meine Synapsen bereits für mich arbeiteten, die überschüssigen Rezeptoren abbauten. Wir überlegten, was ich tun könnte, anstatt jeden Abend ein Bier zu trinken. Ich erzählte ihr, dass ich schon einmal kurz aufgehört hätte mit dem Rauchen, bevor ich mit dem Snus begonnen hätte, und dann sagte sie: «Toll, dann sind Sie jemand, die das kann.»

«Die Seele raucht mit»

Dann sind Sie jemand, die das kann. Der Satz traf mich wie eine Ohrfeige. Es stimmte. Ich konnte in etlichen Situationen ein riesiges Potenzial an Willenskraft aktivieren, doch auf Nikotin hatte ich das nie bezogen. Nikotin war grösser. Nikotin war immer da, seit ich 16 Jahre alt war. Ich rauchte, um runterzufahren, um hochzufahren. Ich rauchte, um zu feiern, um Langeweile zu überbrücken. Ich rauchte, wenn ich Stress hatte oder traurig, wütend oder fröhlich war. «Es gibt Menschen, die sich zu Tode rauchen, obwohl sie eigentlich eine Depression behandeln sollten», sagte Catherine Abbühl. «Die Seele raucht mit.» Ich wusste genau was sie meinte, aber nicht genau, was es bedeutete.

Die Schweiz führt einen eigenartigen Diskurs über Tabakprodukte, das merkt man bei der Recherche schnell. Die Informationslage wirkt oft seltsam schwammig und die Leute, die sich dazu äussern, seltsam emotional. Das hat sicher mit der Tabakindustrie zu tun, die man gut und gerne als die verlogenste aller Industrien bezeichnen kann. Sie begann bereits in den 1950er Jahren, ihre Manipulationsmethoden zu entwickeln. Das reichte bis in die 90er, als man noch Mediziner wie Franz Adlkofer unter Vertrag hatte, die versprachen, die krebserregende Wirkung von Rauchen vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen.

Und das geht bis heute, wenn eine von Philip Morris finanzierte Stiftung Forschung fördert, die zum Schluss kommt, Nikotin helfe gegen Covid-19. Das ist bei genauerer Betrachtung wirklich bösartig genial: Da kursiert ein globales Virus, das die Lunge angreift, und die verbreiten gleichzeitig die Idee, Rauchen könnte dagegen helfen. Keine andere Studie konnte die Validität des ersten Journals je belegen, die These aber hatte sich längst verselbständigt. Über die Jahre hinweg ist so ein derart kompliziertes Geflecht aus Lügen und Theorien entstanden, dass es schwierig ist, überhaupt noch die Wahrheit dahinter zu finden. Doch dieser Nebel ist das Ziel.

Viele Regierungen haben die Tabakindustrie aus der Politik verbannt. In der Schweiz darf sie an Gesetzen mitarbeiten. Politiker können gleichzeitig im Parlament sitzen und bezahlte Präsidenten der Vereinigung des Schweizerischen Tabakwarenhandels sein, wie der Nationalrat Gregor Rutz von der SVP. Tabakbauern sind in der Schweiz selbstverständlich speziell subventioniert. Es gibt eine internationale Rangliste, die analysiert, wie stark die Industrie sich einmischen darf, da landen wir auf dem zweitletzten Platz, knapp vor der Dominikanischen Republik – 95 von 100 Punkten.

«Ich war bald einen Monat nikotinfrei, aber nichts war gut. Ich fühlte mich innerlich abwechselnd leer und total nervös.»

Ich konnte mich da richtig reinsteigern in meinem immer dunkler werdenden Entzugsherbst. Am PC eines Arbeitskollegen, eines jungen Vaters, sah ich, dass bei ihm Pampers-Werbung aufflackerte, wo ich mit E-Zigaretten belagert wurde. Ich war bald einen Monat nikotinfrei, aber nichts war gut. Ich fühlte mich innerlich abwechselnd leer und total nervös. Ich konnte mich schlecht konzentrieren. Kurz dachte ich daran, Betelnuss zu importieren, eine aufputschende Beere, die sie in Asien kauten, aber die machte die Zähne braun. Ich kaufte mir die Brain-PS-Pillen von Burgerstein. Beim Mittagessen erzählte ich einem Freund, dass ich gerade versuchte, aufzuhören. Er lehnte sich zurück, steckte sich eine Zigarette an und fragte: «Warum?» Ich murmelte etwas von angegriffenem Zahnfleisch wegen des Snus, aber ich überzeugte nicht einmal mehr mich selbst.

Warum wollte ich aufhören? In einem Podcast hatte ich gehört, dass man im Silicon Valley das Nikotin in Mikrodosen konsumiere zur Leistungssteigerung. Das könnte doch auch etwas für mich sein. Natürlich könnte ich aufhören, aber ich wollte jetzt gar nicht mehr. Und warum rief diese Frau nicht an?

Die tickende Uhr der Niktotinindustrie

Man hat heute ja die Möglichkeit in der Industrie, die man nicht mehr Tabakindustrie, sondern Nikotinindustrie nennen sollte, eine ganze Nikotinkarriere hinzulegen. Wenn man mit der Zigarette aufhören will, stehen Vapes, Snus und Einweg-E-Zigaretten bereit, teilweise angeboten von denselben Firmen. Das ist wirklich brillant perfide. Man kann aufhören und trotzdem süchtig bleiben, und die Forschung streitet sicher noch eine Weile darüber, ob E-Zigaretten nun schlecht sind oder doch ein bisschen gut. Über die Langzeitfolgen weiss man sowieso noch sehr lange viel zu wenig. Bis dahin bleibt alles schön schwammig, eine einzige grosse Grauzone. Bei den Jungen zieht der Vape-Konsum gerade richtig an. Die ­E-Zigaretten-Verkäufer nennen sich heute Rauchstoppberater, die Präventionsexperten schäumen.

Auch wegen ihrer Initiative, die Kinder und Jugendliche vor Tabakwerbung hätte schützen sollen. Das Volk nahm sie vor zwei Jahren an, und gerade wurde bekannt, wie stark der Ständerat die entsprechenden Stellen im neuen Gesetz wieder abgeschwächt hat. Man soll beispielsweise keine Werbung machen dürfen an einem Junioren-Fussballturnier, aber einen Stand da zu betreiben, müsste doch eigentlich möglich sein. Es scheint nicht darum zu gehen, möglichst keine jungen Leute mehr mit Nikotinwerbung zu erreichen, sondern darum, die Einschränkungen so zu gestalten, dass man trotzdem noch möglichst viele erreicht. Für die Nikotinindustrie tickt eine Uhr, das weiss jede Statistik: Nach dem Alter von 25 Jahren beginnt niemand mehr mit Rauchen, kein vernünftiger erwachsener Mensch, quasi.

«Manchmal klingelt Catherine Abbühls Telefon ins Leere. Dann weiss sie, dass es jemand nicht geschafft hat. Fast zehntausend Menschen sterben jedes Jahr am Rauchen.»

Manchmal klingelt Catherine Abbühls Telefon ins Leere. Dann weiss sie, dass es jemand nicht geschafft hat. Fast zehntausend Menschen sterben jedes Jahr am Rauchen. An einem Tag im Februar sitze ich in einem Büro der Krebsliga in Bern, ein wenig glamouröser Klotz gleich neben der Schlichtungsbehörde. Es gab keinen bestimmten Kippmoment. Irgendwann ging der Stress schleichend in Ruhe über. Ich erinnere mich an das letzte Telefonat mit Abbühl. Es war, etwa zwei Monate nachdem ich aufgehört hatte. Ich wollte nicht, dass sie auflegt, weil ich wusste, dass sie nicht mehr anrufen würde. Nun traf ich sie zum Interview.

Catherine Abbühl ist eine zurückhaltende Frau mit einem kleinen Lächeln. Sie hat ihr Leben den Süchtigen gewidmet, obwohl sie nie süchtig war. Ihre Grossmutter hat ihr zwei Dinge beigebracht: nicht zu viel essen und nicht rauchen. Daran hielt sie sich ein Leben lang. Sie ist seit fast zwanzig Jahren an dieser Stelle, diesen Sommer würde sie pensioniert, aber sie wirkt, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, sich zur Ruhe zu setzen, weil sie so gut in ihrem Job geworden ist.

«Schön, hat es bei Ihnen geklappt», sagt sie. Sie sei manchmal fast zu geduldig mit den Leuten, aber einige seien so am Ende, dass sie sich selber nicht mehr über den Weg trauten, da helfe kein Druck. Sie versteht sich als eine Art Trainerin. Rauchen sei eine Handlung, Nichtrauchen auch, man müsse bloss die eine mit der anderen ersetzen. Irgendwann hatte ich gemerkt, dass mir Nikotin nicht besser beim Konzentrieren half als eine Runde an der frischen Luft. Dass ich zwar neu lernen musste, mit Stress umzugehen, aber generell viel weniger gestresst war.

Techno bringt mich in den Schreibflow. Ich jogge jetzt. Manchmal, wenn ich einige Tage nicht rauskann, werde ich unruhig, fast nervös. Die Vogelbabys aber sah ich nie wieder.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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