Tod eines Glückskindes

Wochenlange Isolation, viele Medikamente, kaum Therapie: haeben wir in der Schweiz ein problem mit autismus? Dies ist Theos Geschichte.
NZZ am Sonntag, 14. April 2024

 

Der November in Hawaii fühlt sich an wie ein Frühling. Die Luft ist warm und weich, auf einem Hügel auf der Insel Maui werden lange Tafeln gedeckt. Gleich beginnt eine Dinnerparty. Es ist das Dankeschön einer Firma an die Angestellten und ihre Partnerinnen und Partner. Das Ehepaar W. aus dem Aargauer Reusstal hat noch ein paar Tage Ferien angehängt. Solche Gelegenheiten kommen selten. Niemand würde ahnen, dass der Schatten von Theos Tod sich in diese Südsee-Szenerie schleichen könnte. «Was machen eure Kinder?», fragt die Frau des Vertriebsleiters.

Es ist die gewöhnlichste Frage der Welt, doch nach mehr als drei Jahren wissen Mutter und Vater immer noch nicht, wie sie sie beantworten sollen. Wie könnten sie sagen, sie hätten nur ein Kind, wenn es doch zwei gegeben hat? Aber wie könnten sie erzählen, was dem Jüngeren zugestossen ist? Die ganze grässliche Geschichte in diesem prächtigen Garten ausbreiten? Sie erzählen von ihrem älteren Sohn, bis die Frage nach dem jüngeren kommt – unausweichlich. «He passed away», sagt der Vater, er presst die Lippen zusammen. Der Mutter laufen die Tränen über die Wangen. So passiert das immer wieder.

Der Beginn eines langen Marschs

«Unser Leben steht still, unsere Welt steht still, unser Haus ist unerträglich still», notierte die Mutter in das Erinnerungsbuch, das der Vater über Theo geschrieben hat. Über zweihundert Seiten, er nannte es die «Theografie». «Drei Leben gebrochen – loslassen, weitermachen, heilen, wie?», steht auf der letzten Seite. Ja, wie?

Jedes Jahr, wenn der Tag sich jährt, an dem Theo bewusstlos in der Klinik gefunden wurde, geht die Familie W. auf einen langen Marsch, fast vier Stunden von ihrem Haus im Aargauer Reusstal, den Fluss hinunter bis nach Windisch zu den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG), Hauptstandort Königsfelden. Dort stellen sie Kerzen vor den Eingang und unter das eingetrübte Fenster des Zimmers, in dem Theo zu Tode kam.

«Haben wir alles, was wir brauchen?», fragt die Mutter. Käse, Wurst, Brot, zwei Kerzen, ein Feuerzeug füllen einen kleinen Rucksack. Die Sonne scheint ungewöhnlich warm an diesem 30. Dezember. Der ältere Sohn ist aus Frankreich zu Besuch, er studiert da. Seine Zukunft sieht er nicht mehr richtig in der Schweiz. Er war immer ein grossartiger Schüler, hat ein halbes Jahr übersprungen, zwei Bachelorabschlüsse gleichzeitig gemacht, jetzt ist er in einem Programm für Master und Doktorat in einem. Er studiert die komplexesten Fragen der Wirtschaft, doch im Tod seines kleinen Bruders konnte er nie eine Logik finden. Er leidet seither unter Schlafstörungen, die bald schlimmer sind, bald weniger. «Theo ist nicht friedlich aus der Welt gegangen, so nagt es doppelt», sagt er.

Die erste Etappe des Weges an diesem Dezembermorgen ist mit Fragen gepflastert: Was war an dem Tag los, an dem Theo starb? Hat die Klingel im Isolierzimmer funktioniert? Hat denn niemand eingegriffen? Die Fragen verhallen im Rauschen der Reuss. Die Familie sollte sehr lange keine Antworten auf ihre Fragen zu Theos Tod erhalten.

Die Familienmitglieder gingen alle anders mit dem Verlust um. Der Bruder ging ins Ausland. Der Vater schrieb alles Schöne über Theo auf. Der Betriebswirtschafter arbeitete, so viel er konnte, und er rannte, fuhr Rennrad, trainierte im Fitnesskeller. Die Mutter vergrub sich in Dokumente. Sie las Bücher, besuchte Vorträge, verglich die Protokolle, führte Korrespondenz und studierte Theos Medikation. Sie hat eine Ausbildung als Apothekerin. Sie weiss alles, was in den Akten steht, nur eines fehlt: «Was wir erlebt haben, steht nirgendwo.»

Davon handelt diese Geschichte.

Theo kommt in München zur Welt, er ist ein lebendiges und lustiges Kind, etwas anders als andere. Er lernt ein wenig später laufen und reden, aber alles nicht weiter tragisch. Die Familie lebt eine Weile in Australien, da wird Theo eingeschult. Er ist ein gelangweilter Schüler, bis seine Mutter ihm klarmacht, dass er so sitzenbleiben wird. Von da an lernt Theo, hängt sich rein, schreibt gute Noten. Als Jugendlicher weiss er mehr als seine Eltern von internationaler Politik, Donald Trump, Viktor Orban, von Formel 1, Sebastian Vettel. Von Ferrari ist er regelrecht besessen.

2011 kommt die Familie in die Schweiz, die Eltern wollen wieder näher bei ihren Verwandten sein. Theo fügt sich ein in der Schule, mithilfe der Mutter kommt er gut mit. Er ist das Glückskind der Familie, das wissen alle. Er wird einmal im Lotto gewinnen, so wie er im Dreikönigskuchen jedes Jahr den König findet. Die Menschen mögen ihn, er habe keinen Funken Böses in sich, sagt eine Freundin. Er kann pausenlos erzählen. Wenn sein Bruder ihn aus dem Zimmer schiebt, weil er schlafen will, kommt Theo meistens noch einmal rein. «Eine kleine Sache noch!»

Es wird eng für die Familie

Theos Krise beginnt mit der Pubertät und dem Ende der Bezirksschule. Er will unbedingt an die Kantonsschule, will Wirtschaft studieren, wie sein Bruder. Er lernt bis zur Erschöpfung, und als er es gerade so schafft, ermöglichen die Eltern ihm ein Zwischenjahr zum Durchatmen. Er geht nach Australien zu alten Freunden und dort auch zur Schule. Er erholt sich. Nach wenigen Wochen vermuten die Lehrpersonen, dass Theo wohl autistisch sei. Man kennt sich aus mit dem Thema, einer der bekanntesten Autismus-Professoren, Tony Attwood, ist Australier. Das Ehepaar W. kann den Befund erst gar nicht glauben. Theo entspricht nicht dem Klischee eines Autisten. In der Schweiz kennt man sich mit den verschiedenen Ausprägungen der Störung offenbar nicht so aus. Die Diagnose sei kaum je Thema, erzählen die Eltern.

Theo kommt auf eine weiterführende Schule mit kleineren Klassen und weniger Fächern. Trotzdem nehmen die Versagensängste wieder Besitz von ihm. Er rennt viel, um den Stress auszugleichen, aber es funktioniert nicht. Er muss immer wieder duschen, und er schläft schlecht. Die Mutter will ihm helfen, doch ihr Wille und derjenige des Sohnes verkeilen sich. Als die Schweiz wegen der Covid-Pandemie in den Lockdown geht, wird es eng für die Familie. Alle sind im Home-Office, Theo ist laut, es gibt Streit, die Nerven liegen blank. Eine Psychologin rät zum Klinikaufenthalt. Der Vater und der Bruder sind einverstanden. Die Mutter eigentlich nicht, aber dann stimmt sie zu. Dieser Teil der Geschichte nagt bis heute an den dreien. Würde Theo noch leben, wenn sie anders entschieden hätten?

Die Autismus-Spektrum-Störung, auch Autismus genannt, ist eine erbliche Entwicklungsstörung, deren Ursachen vielschichtig sind. Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist davon betroffen. Man muss sich einen fliessenden Übergang zwischen tiefgreifenden Störungen und ganz leichten Ausprägungen vorstellen – Letztere nennt man Asperger-Syndrom oder hochfunktionalen Autismus. Menschen mit Autismus sind nicht psychisch krank, sie verfügen über ein anderes «Betriebssystem», ungefähr so wie sich diejenigen von Android- und von iOS-Handys unterscheiden.

Sie verarbeiten Informationen anders, nehmen das Gesagte oft wortwörtlich. «Jetzt» beispielsweise heisst «jetzt» und nicht «gleich» oder «momentan». Menschen mit Autismus können die Stimmung eines Gegenübers manchmal schlecht lesen und brauchen Rituale und immergleiche Alltagsabläufe. Sie befassen sich gerne mit einem Spezialgebiet, in dem sie aussergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln können. Viele von ihnen nehmen mehr wahr: Lautstärke, Licht, Gerüche, Gefühle, Berührungen – alles ist intensiver und kann schmerzhaft sein. Bei einer Reizüberflutung kann es zu einem Zusammenbruch kommen und dann zu einem Rückzug. In der Pubertät sind all diese Symptome stärker. Oft maskieren die Betroffenen sie. Sie wollen nicht anders sein. Doch von alldem wusste die Familie W. kaum etwas.

«Steigerung ins Armageddon»


Der Pfad an der Reuss ist über den Winter teilweise abgerutscht, Bäume und Äste haben sich darübergelegt. Die drei müssen sich den Weg immer wieder suchen. Einen Moment lang sieht es aus, als seien sie gefangen in dem Dickicht aus Schotter und Gestrüpp. «Es gibt Phasen blanker Wut», sagt die Mutter. «Ich hätte auf dich hören sollen», sagt der Vater. «Ich dachte, man müsse den Fachleuten vertrauen.» Irgendwann um Weihnachten sagte die Mutter, sie glaube, es komme mit dem Theo nicht mehr gut. Aber dann war es schon zu spät.

Zu Beginn sind die Psychiatrischen Dienste eine Entlastung. Theo kann sich aber nur schwer eingewöhnen. Er findet Zugang zu einer Pflegefachfrau auf der Kinder- und Jugendabteilung, aber die vielen Dramen und die wechselnden Mitbewohner machen ihm zu schaffen. Die Eltern seien überrascht gewesen über die Menge unterschiedlicher Medikamente, die ihm die Ärzte verschrieben hätten, doch sie hätten der Klinik vertraut, erzählen sie. Vielleicht wird sein nahender achtzehnter Geburtstag Theo zum Verhängnis.

Er muss sich einer kleinen Operation unterziehen, wegen einer Verengung der Vorhaut. Um diese Zeit diskutiert die Klinik die Idee, ihn auf die Erwachsenenstation zu verlegen. Die Plätze auf der Kinder- und Jugendabteilung sind knapp, es ist Pandemie. Theo hat Zwangsgedanken entwickelt, so steht es in den Akten. Er sagt in einem Moment, er müsse jemanden umbringen, und entschuldigt sich im nächsten dafür. Am 18. November 2020 wird er ganz plötzlich auf die Akutstation für Erwachsene verlegt. Eineinhalb Monate später ist er tot.

Hier ereignet sich etwas, das der Anwalt der Eltern später eine «Steigerung ins Armageddon» nennen wird. Theo entwickelt immer mehr Zwänge. Immer wieder muss er duschen. Er kratzt die Ferse auf, schlägt den Kopf gegen die Wand, lässt die Hosen runter, betritt fremde Zimmer, immer wieder entschuldigt er sich für alles. «Ich fühle nichts mehr», sagt er zur Mutter. «Ich versuche, wieder Angst zu haben.» Sie habe geglaubt, dass etwas mit den Medikamenten nicht stimme, sagt die Mutter.

Theo ist während seines Aufenthalts stark abgemagert und hat dann rasant zugenommen. Er ist nicht mehr der Mensch, den sie gekannt hat, und alles wird immer schlimmer. Theo kommt in ein Isolierzimmer. Das Zimmer ist kahl bis auf eine Matratze. Durch das milchige Fenster sieht man nichts. «Wir sagten nichts, wir hatten Angst, wir dürften sonst nicht mehr zu ihm», sagt der Vater. Die Familienbesuche wurden schon länger stark eingeschränkt, die Telefonate auch. Theo ist mittlerweile fürsorgerisch untergebracht, kommt also nicht mehr so einfach raus.

Am 25. Dezember gehen Vater und Bruder ihn besuchen. Zu Beginn kann Theo kaum sprechen, er weint bitterlich, erzählen sie. «Wisst ihr von meinen blauen Flecken?», fragt er und zeigt seine Oberschenkel. «Es war ein Hilferuf», sagt der Vater, aber er habe das erst später verstanden. Fünf Tage nach diesem Besuch wird das Ehepaar W. ans Universitätsspital Zürich gerufen. «Ich dachte an nichts Schlimmes», so erinnert sich der Bruder. Er reist den Eltern nach. Dann verschwimmen die Tage und die Stunden. Ein Ärzteteam erklärt den dreien, dass der Zustand von Theos Gehirn hoffnungslos sei. Bei einer Hirntoduntersuchung zeigt er keine Reaktionen mehr. Die Familie W. muss eine schwere Entscheidung treffen. Am 2. Januar um 13 Uhr werden die Maschinen, die Theo am Leben halten, abgestellt. Theo kämpft noch eine Dreiviertelstunde. Dann ist es vorbei.

Tage wie im Horrorfilm

In psychiatrischen Einrichtungen sind Zwangsmassnahmen erlaubt. Im europäischen Vergleich sperrt die Schweiz sogar besonders viele Menschen zwangsweise ein, «fürsorgerische Unterbringung» wird das genannt. Jede fünfte Person ist nicht freiwillig in einer psychiatrischen Klinik. Auch der Einsatz von Isolation zum Schutz der Patienten oder von anderen kommt vor – obwohl ihr therapeutischer Nutzen umstritten ist. Im Jahr 2018 wurden die Psychiatrischen Dienste Aargau von der Anti-Folter-Kommission für die hohe Zahl bewegungseinschränkender Massnahmen gerügt. Im Jahr 2016 waren es insgesamt 1922, das sind durchschnittlich 5 pro Tag.

Nach dem Tod von Theo bleibt die Familie W. voller Fragen zurück. Über 130 davon hat die Mutter auf 20 Seiten gesammelt. Dann flattern Theos Krankenakten in das still gewordene Einfamilienhaus im Aargau. Darin sind Antworten, die sie lieber nie erhalten hätten. Nachdem der Vater die Akten gelesen hat, bricht er weinend zusammen. Die Mutter wendet sich an die Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.

Theos letzter Monat liest sich wie das Drehbuch eines Horrorfilms. Theo leidet. Die zwanghaften Gedanken und Handlungen verschlimmern sich, er entblösst sich, er verschmiert seinen Kot im Zimmer. Er sagt, es habe alles keinen Sinn mehr. Zur Beruhigung gibt es zusätzliche Medikamente. Es sind viele. Der Jugendliche beginnt, sich fallen zu lassen, vom Sitzwürfel aus, vom Bett, von der Toilette oder einfach aus dem Stand rückwärts auf den Hinterkopf – immer und immer wieder. Sein Kopf sei dann nicht mehr so leer, sagt er gemäss den Akten.

Ob man sich Sorgen mache, ob er nun ins Spital müsse, fragt er. Eine Gesichtshälfte ist komplett geschwollen. Die Toilette wird zu seinem Schutz abgesperrt, obwohl duschen ihm immer geholfen hat. Er kann nicht raus, obwohl laufen ihm immer geholfen hat. Immer wieder wird sein Gewaltpotenzial eingeschätzt, immer wieder ist es tief. Am 29. Dezember beobachtet das Personal durch das Guckloch des Isolierzimmers, wie sich Theo dreimal aus der Hocke und sechsmal von der Bettkante nach hinten fallen lässt, ohne abzubremsen. Es wird notiert. Seit über einer Woche wird das einfach notiert. Am 30. Dezember wird Theo bewusstlos im Zimmer aufgefunden. Er wacht nie wieder auf.

«Absolute Lieblosigkeit»

Der Rechtsanwalt Philip Stolkin sagt: «Im Endeffekt hat ihn die absolute Lieblosigkeit getötet.» Man habe diesen jungen Mann in einer besonders vulnerablen Situation einen Monat lang in Isolation gesteckt, abgesondert von Verwandten, ohne passendes Therapieangebot. «Eine mehr als fünfzehn Tage andauernde Isolationshaft löst immer Schäden aus, auch bei gesunden Menschen», sagt er. Gemäss internationalem Recht ist eine Isolationshaft von mehr als zwei Wochen verboten – und das gilt für Menschen, die wegen eines Verbrechens inhaftiert sind. Psychiatrische Kliniken hätten in dieser Situation sehr viel Macht. Es brauche eine stärkere Aufsicht und Kontrolle. Stolkin gehört zu den profiliertesten Menschenrechtsanwälten der Schweiz. Er vertritt die Familie W.

Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau bestätigt auf Anfrage, dass in der Angelegenheit ein Strafverfahren bei der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach hängig ist. Die Ereignisse werden untersucht. Eine Ärztin und ein Arzt stehen im Fokus. Würde Theo noch leben, wenn die Verantwortlichen anders gehandelt hätten? Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung. Auch der Gesundheitsvorsteher Jean-Pierre Gallati traf die Eltern, das war 2021. Er eröffnete ein Aufsichtsverfahren. Doch beide Verfahren ziehen sich hin. Es ist drei Jahre her. Eine Ewigkeit für die Familie W.

Die Menschenrechtsorganisation humanrights.ch will aus Theos Fall einen Grundsatzentscheid machen. Die Geschäftsleiterin Marianne Aeberhard sagt: «Wir möchten die Frage klären, warum es möglich ist, dass man jungen Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung die Freiheit entzieht. Hat das je in einem Fall zu einer Verbesserung geführt?» Aeberhard will, dass Todesfälle im Freiheitsentzug grundsätzlich aufgearbeitet werden. Das geschehe in der Regel nicht.

Führungskrise, Personalmangel, Überlastung in der KliNiK

Klar ist, es lief nicht gut bei den Psychiatrischen Diensten in Königsfelden. Im Sommer nach Theos Tod stellt die Klinik einen Antrag auf Zusatzfinanzierung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – 5,5 Millionen. Kurze Zeit später wenden sich Pflegefachpersonen in einem Brief direkt an den Gesundheitsdirektor Gallati: Die Versorgungs- und Patientensicherheit sei gefährdet, es gebe viel zu wenig Personal, es müsse etwas passieren. Im Oktober schlägt der Klinikchef Alarm, die Akutstationen würden «permanent am Limit laufen» und seien «eigentlich überlastet». Im Januar 2022 verlässt der Chef überraschend die Klinik, um sich beruflich neu zu orientieren.

Eine von der Klinik selber in Auftrag gegebene Untersuchung kommt später zu dem Schluss, bei den Problemen habe es sich um eine «Führungskrise» gehandelt, es gebe vor allem bei der Kommunikation und der interprofessionellen Zusammenarbeit Handlungsbedarf. Eine systematische Gefährdung der Sicherheit von Patienten liege nicht vor. Die Untersuchung wurde nie veröffentlicht.

Ende Jahr forderte auch der neue Klinikchef mehr Geld vom Kanton. Man könne sinnvolle Angebote für Kinder und Jugendliche nicht aufbauen, weil es finanziell nicht drin liege. Die Klinik ist in der paradoxen Situation, dass sie prächtige Zahlen präsentiert, aber eigentlich Finanzierungslücken hat. Wenn Politikerinnen und Politiker der SP, der Mitte und der FDP dann über finanzielle Soforthilfen nachdenken, wie damals, als der Klinikchef Alarm schlug, begründen SVP-Politiker ihre Skepsis mit den guten Zahlen der Klinik.

Klinik verweist auf Führungswechsel

Die Psychiatrischen Dienste Aargau weisen auf Anfrage darauf hin, dass es seit einem Grossteil der erwähnten Ereignisse zu personellen Wechseln in Schlüsselpositionen gekommen sei. «Sowohl der CEO als auch der Klinikleiter und Chefarzt unserer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie haben zwischenzeitlich gewechselt», schreibt die Kommunikationsstelle. Die Fragen zu Theos Tod kann die Klinik aus datenschutzrechtlichen Gründen, und weil sie ein laufendes Verfahren betreffen, nicht beantworten.

Von den beantragten rund 5,5 Millionen Franken haben die Psychiatrischen Dienste inzwischen rund 1,1 Millionen erhalten. Ab 2023 habe der Kanton zudem eine Defizitdeckung für die Kinderklinik in noch unbekannter Höhe zugesprochen. Die Gelder würden für den Ausbau der psychiatrischen Versorgung der Kinder und Jugendlichen in der Tagesklinik, im Home-Treatment, bei den Krisenbehandlungsplätzen, bei der Reintegration und in der Autismusberatung eingesetzt, schreibt die Klinik weiter.

In Windisch klettert die Familie W. von der Reuss den Weg zur Psychiatrischen Klinik Königsfelden hinauf. Es ist ein grosses Areal mit Kirche und Gehöft, ein ehemaliges Kloster. In den letzten Jahren kamen Neubauten hinzu. Die kleine Wandergruppe wird still, als sie in die Zufahrtstrasse einbiegt. Der Vater klammert sich an seinen Rucksack. «Es wirkt so normal», sagt der Bruder. «Die Maschine läuft einfach weiter. Einen hat sie zerquetscht», sagt die Mutter.

Nach Theos Tod hat sie einen Autismuskongress besucht, der ihr die Augen geöffnet habe. Plötzlich habe sie alles verstanden. Dass Theo ein anderes Betriebssystem hatte, warum er die Dinge so anders sah, warum er so viel Routine brauchte, warum man mit Druck nichts erreichen konnte. Dass schnelle Wechsel ihn überforderten und dass er, wenn auch achtzehn Jahre alt, noch lange nicht erwachsen war. Sie gründete mit anderen Müttern den Verein «That’s us – Asperger verstehen». «Ich will, dass so etwas nie wieder passieren kann», sagt sie.

An einem Vortrag, den sie mit anderen Eltern letzten Herbst im Besucherzentrum der Psychiatrischen Dienste hielt, mussten etliche zusätzliche Stühle in den Raum geschafft werden. Sie erklärten, wie Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung funktionieren und warum die Akutstation der falsche Ort für sie sei. «Autisten brauchen eine sorgfältige Umgebung, sonst macht man sie kaputt», sagte die renommierte Aargauer Psychiaterin Ursula Davatz in ihrem kurzen Referat. «Autismus wird oft mit Schizophrenie oder einer Zwangsstörung verwechselt und falsch behandelt», sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Stefan Thelemann. Er ist Experte für Autismusabklärungen und kennt Theos Fall. «Die Kliniken müssen dringend bezüglich Fachkompetenz aufholen.»

Pfleger fordert Penisbilder von Patient

Die «NZZ am Sonntag» steht in Kontakt mit drei weiteren Familien mit autistischen Kindern, die auf Akutstationen in Königsfelden landeten. Alle erzählen von ähnlichen Erfahrungen: Der Fokus auf die Medikamente, der Druck zur Unterordnung, wenig Beschäftigung, fehlende Behandlungspläne. Zudem würden Eltern nicht einbezogen, sondern eher als Problem gesehen. Moderne Therapieansätze gehen eigentlich davon aus, dass auch das Familiensystem therapiert und aufgeklärt werden müsste.

In einem Entscheid des Aargauer Obergerichts war zudem von einem autistischen 19-Jährigen zu lesen, der im Februar 2022 in Königsfelden von einem 53-jährigen Pfleger per Chat aufgefordert wurde, ihm Bilder von seinem Penis und seinem Körper zu schicken. Die Mutter meldete das bei der Polizei. Ein Verfahren wurde nicht aufgenommen, weil der junge Mann volljährig war. Die Angelegenheit liegt nun beim Bundesgericht.

Diesen Januar löcherten einige Grossrätinnen und Grossräte der Grünliberalen Partei die Aargauer Regierung mit Fragen. Gleich drei Interpellationen zu den Psychiatrischen Diensten reichen sie ein. Es geht um Suizid, Platzmangel und den Umgang mit Autisten. Der Grossrätin Manuela Ernst sind eigene Fälle bekannt.

Die Psychiatrischen Dienste Aargau verweisen auf Anfrage bezüglich des Pflegers auf den Datenschutz, halten aber fest, «dass Übergriffe jeglicher Art bei den PDAG keinen Platz haben und nicht toleriert werden». Die Anwendung bewegungs- und freiheitseinschränkender Massnahmen werde zudem als absolut letztes Mittel, als Ultima Ratio betrachtet und nur eingesetzt, wenn alle anderen therapeutischen Optionen ausgeschöpft seien. Das Hauptaugenmerk bei der Behandlung liege zudem eindeutig auf therapeutischen Massnahmen und nicht etwa auf Medikamenten. Wo immer möglich, werden Behandlungen und Therapien mit den betroffenen Personen und ihren Angehörigen besprochen sowie, falls erforderlich oder vorgeschrieben, auch schriftlich vereinbart.

Ein Sprecher des Gesundheitsdepartements bestätigt das laufende Aufsichtsverfahren und ein weiteres, das gegen die Psychiatrischen Dienste eröffnet worden sei. Er weist darauf hin, dass im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Mangel an Fachpersonal das grösste Hindernis darstelle und nicht in erster Linie die Finanzierung. Insbesondere fehlen Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychologen.

Theos Lunge atmet weiter

Gibt es in der Schweiz ein Problem im Umgang mit Autismus? Im Jahr 2022 wurden in einem Genfer Autismus-Kinderheim gravierende Missstände aufgedeckt. Kinder sollen in ihren eigenen Exkrementen liegengelassen worden sein. Ihnen wurde das Essen vorenthalten. Im Sommer des gleichen Jahres kam ein Skandal im inzwischen geschlossenen Heim Chasa Flurina in Graubünden ans Licht. Es soll zur Anwendung von Gewalt an autistischen Menschen gekommen sein.

Gibt es in der Schweiz ein Problem im Umgang mit Autismus? Im Jahr 2022 wurden in einem Genfer Autismus-Kinderheim gravierende Missstände aufgedeckt. Kinder sollen in ihren eigenen Exkrementen liegengelassen worden sein. Ihnen wurde das Essen vorenthalten. Im Sommer des gleichen Jahres kam ein Skandal im inzwischen geschlossenen Heim Chasa Flurina in Graubünden ans Licht. Es soll zur Anwendung von Gewalt an autistischen Menschen gekommen sein.

Es gibt eine Stelle, etwa eine Stunde vor Windisch, wo die Reuss breiter wird und das Ufer heller. Als wäre es abgemacht gewesen, legt die Wandergruppe eine Pause ein. Der Vater nimmt sein Handy hervor und beginnt, etwas vorzulesen, es ist ein Gedicht, «Lebensatem». Es handelt von einer 32-jährigen Frau, die nur noch mithilfe eines Schlauches atmen kann. Eigentlich hätte sie gerne Kinder gehabt, aber ohne eine neue Lunge wird sie nicht mehr lange leben können. Dann kommt ein Anruf und mit ihm ein neues Leben. «Ein riesiges Dankeschön an meinen Spender, einen Dank an seine grosszügige Familie», schreibt die junge Frau. Die Familie W. versinkt in einer langen Gruppenumarmung. Theos Lunge lebt weiter. Und seine Geschichte auch.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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