Kolumne: WÜRDE UND WAHN

Illustration: Daniel Ramirez Perez

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stinke ich eigentlich?

9. Februar 2025

Ich habe nur wenige Freundinnen, die mich so herausfordern wie sie. Ich nenne sie manchmal «meine etwas ältere Mentorin», weil sie dann so tut, als fände sie das eine absolute Frechheit. Manchmal schreibt sie mir Tage nach einem Treffen aus heiterem Himmel eine Nachricht und zieht mich für einen meiner beiläufig geäusserten Sätze zur Rechenschaft. Mich erfasst jedes Mal eine leichte Panik, aber insgeheim fühle ich mich geehrt, dass jemand meine Sätze so ernst nimmt.

Kürzlich passierte es an dem Tag, nachdem wir im Zürcher Kunsthaus die Ausstellung der Performance-Künstlerin Marina Abramovic gesehen hatten. «Warum sagtest du eigentlich, Abramovic habe sicher Kinder?» Die Nachricht kam frühmorgens, ich war sofort hellwach. «Ich schloss, sie sei so süchtig nach Empfindungen, dass sie sicher wissen wollte, wie es sich anfühlt, ein Kind zu gebären», sagte ich. Die Antwort genügte.

Marina Abramovic hat in den letzten 55 Jahren unter Einsatz ihres eigenen Körpers die Performance-Kunst gross gemacht. Jetzt versetzte ihr Lebenswerk die Stadt wochenlang in ein Fieber. Im Laufe ihrer Karriere hat sie sich stundenlang ohrfeigen, aufritzen und mit Waffen bedrohen lassen und alles dokumentiert. Sie hängte sich über Kerzen auf oder sass auf einem Haufen Rinderknochen. Sie sah Schmerz als Möglichkeit, geistige Klarheit zu erfahren.

Wir waren zu viert in der Ausstellung. «I’m so ­excited», sagte die Amerikanerin zu Beginn, danach sahen wir sie nicht mehr wieder. «Ich weiss nicht, ob sie mir gefällt», sagte die Berlinerin. «Stinke ich eigentlich?», flüsterte ich meiner Freundin zu. Beim Eingang musste man sich zwischen nackten Körpern hindurchquetschen. Ich konnte spüren, wie warm sie waren.

Drinnen fesselte mich eine Performance, in der sich Abramovic einen Stern in den Bauch geritzt hatte – eine Auseinandersetzung mit ihren kommunistischen Eltern. Sie war nackt und sah kein bisschen verletzlich aus.

«Findest du nicht auch, dass ihr Körper erst später in seine Gravitas hineingewachsen ist?», sagte meine Freundin. Ihr älterer Körper habe eine viel grössere Präsenz als der jüngere. «Sicher liegt es an all der Kunst», sagte ich, und mir gefiel der Gedanke, dass wir mit unseren Erfahrungen nicht nur unseren Geist, sondern auch unseren Körper formen. Überhaupt schien Abramovic eine einzige Erinnerung daran zu sein, dass wir neben unserem Geist auch einen Körper besitzen. «Shit, die hat statt nur eines viele Leben gelebt», sagte meine Freundin. «Wir sollten alle nur noch Kunst machen.»

Ich konnte sie in diesem Moment sehr gut verstehen. Für Sekunden sah ich uns, wie wir das Museum verliessen, alle Brücken hinter uns niederrissen und unsere Körper an die Grenzen trieben. Stattdessen fanden wir die Amerikanerin. «That’s it?», rief sie. «I thought there was more hands-on stuff.» Sie zog uns in den Museumsshop. Ich kaufte ein paar Postkarten, darauf stand: «Art is like oxygen.» Und ich hielt die Luft an.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


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wind of change

26. Januar 2025

Mich wundert es kein bisschen, dass Atmen boomt. Das Tempo, mit dem sich die Welt verändert, ist atemberaubend. Künstliche Intelligenz, Populismus, Waldbrände, Dubai-Schokolade, Kickl, Trump – klar sind alle am Schnaufen. Eine Freundin nach der anderen erzählte mir von ihren erstaunlichen Erlebnissen beim Breathwork. Von tiefer Ruhe, Transzendenz und der Einheit von allem redeten sie. Es solle sich um das neue Yoga handeln. Da ich einerseits eine Schwäche für neue Sachen und andererseits eine Skepsis gegenüber spirituellen Bewegungen habe, schaute ich mir zuerst ein paar Studien an. Die Forschung zu Atemarbeit boomt. Erste Papers zeigen erstaunliche Resultate: Es beruhigt das vegetative Nervensystem und vermindert Stress.

Ich lag also kurze Zeit später mitten im Zürcher Kreis 4 auf dem Holzboden eines kleinen Kämmerchens und atmete. «Getting high on your own supply», sagte Francesca, die noch vor wenigen Jahren als Rechtsanwältin die krassesten Fälle vor Gericht vertreten hatte und heute ausschliesslich die Breath Academy betreibt. Es brannten Kerzen, in der Luft hing der Duft eines ätherischen Öls. Francesca drehte noch einige Birnen aus der Halterung, dann ging es los. Wir sollten ohne Unterbruch tief durch den Mund ein- und ausatmen, das war alles. Ich muss zugeben, irgendwann war ich ein bisschen woanders.

Das Atmen erinnerte mich an das Laufen, und mir fiel ein besonders schöner Morgen diesen Herbst an der apulischen Küste ein. Ich rannte durch einen Kiefernwald und hörte «Wind of Change». In dem Podcast geht ein amerikanischer Journalist einer verrückten These nach, die ihm ein Ex-Geheimdienstler Jahre zuvor erzählt hatte: Die CIA solle den weltberühmten Song der Scorpions in die Welt gesetzt haben, um den Wind des Wandels durch den Eisernen Vorhang bis in den Osten zu tragen und das Ende des Kalten Krieges einzuläuten.

Ganz unwahrscheinlich ist es nicht, die CIA instrumentalisierte in den fünfziger Jahren Louis Armstrong. Der Journalist verfolgt alle Spuren, reist auf die Cayman Islands, fliegt nach Russland und folgt der Moskwa bis zum Gorky-Park. Der Podcast wurde noch vor dem Krieg aufgenommen. In Moskau trifft der Mann auf die Journalistin Xenia, die furchtbar enttäuscht darauf reagiert, dass dieser amerikanische Journalist einer derart billigen Verschwörungstheorie hinterherrecherchiert. Sie fühlt sich einer Hymne beraubt, einer Stimmung von Aufbruch, die nur von unten und niemals von oben kommen kann. Es ging um das Versprechen des Endes von autoritären Regimen. «Instead, you became more like us», sagt sie.

Ich blieb wie angewurzelt im Kiefernwald stehen. Es stimmte ja. Es weht wieder ein Wind – aus der anderen Richtung. Der Podcast ist ein Lehrstück über Propaganda und Verschwörungstheorien, über den Lärm der Zeit.

Es stellte sich heraus, dass das Tollste an Breathwork nicht das Atmen, sondern das Nichtatmen ist. Irgendwann ist der Körper so gefüllt mit Sauerstoff, dass man minutenlang einfach daliegen kann. Dann ist alles still.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


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Reise zu den toten

12. Januar 2025

Zwischen den Jahren wurde ich von den Toten heimgesucht. Ich hatte mich noch nie richtig mit den zwei dicken roten Büchern beschäftigt, die schon immer im Bücherregal meiner Eltern standen. «Roth – Lebensbilder einer Familie aus dem Luzerner Hinterland», stand in goldener Schrift darauf. Dieses Jahr sogen sie mich ein. Ich blätterte durch hunderte von Ahnentafeln und Stammreihen und begann zu begreifen, was für ein Werk das war. Die 600-jährige Geschichte meiner Vorfahren, vom Stammvater Konrad Roth, im ausgehenden Mittelalter geboren, in einer Linie bis zu meinem Vater. Selbst mein Name stand darin. Neun Jahre lang hatte ein gewisser Alexander Roth aus Zürich geforscht, drei weitere hatte er gebraucht, um alles aufzuschreiben.

Ich versank in den Schicksalen meiner Vorfahren. Las, wie Stammvater Konrad sich aus der Leibeigenschaft loskaufte und wie Vinzenz dem stattlichen Hof des grössten Familienzweigs seinen Namen gab: Zänzenhof. Fast dreihundert Jahre lang lebten und bauerten da Roths, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts sinkende Getreidepreise, Missernten und Landflucht sie in den Konkurs trieben. Ich las von Fremdenlegionären, Hanfspinnerinnen, von Grossräten und von Balz und Sepp, die das «Tabaktrinken», das Rauchen, einfach nicht lassen konnten. Irgendwann war ich bei Verena Roth, die um ein Haar der Hexenverfolgung zum Opfer gefallen wäre. Das Verhörprotokoll hält fest, «das sy verbottens bruche, und allein ettliche Kranckheiten mit natürlichen mittlen curirt». Ich las von Anna Roth, die ziemlich genau hundert Jahre zuvor an dem Ort, in dem ich zur Schule ging, als arme Bettlerin starb. Sie hatte das Unglück, mit 19 Jahren Vollwaise und bald darauf Mutter eines unehelichen Kindes geworden zu sein.

Trotz aller Verwandtschaft fiel es mir schwer, mich mit den Schicksalen dieser Menschen zu verbinden. Spare ich heute noch, weil meine Verwandten vor Jahrhunderten ihren Hof verloren? Ich weiss es nicht. Und doch glaube ich, dass wir unsere Erfahrungen über Generationen weitervererben. Immer bei den Roths, die weggegangen waren, schlug mein Herz höher. Bei Johann, der als Musikant nach Neapel ging, bei Josef, dem umherziehenden Schreiberling. Aber hatten sie etwas mit mir zu tun? Ich wollte Alexander Roth fragen, den Autor des Buches hatte es ja auch nach Zürich verschlagen. Er war Radio-Redaktor geworden. Journalist, wie ich.

Er müsste heute 83 Jahre alt sein. Im Buch fand ich seine Adresse. An einem der ersten Tage des Jahres steuerte ich meine Joggingroute dorthin. Die Stadt erwachte wie aus einem Winterschlaf, die Leute stellten Kartons auf die Strasse, die Lehrerinnen richteten ihre Schulzimmer ein, voller Hoffnungen für das neue Jahr. Ich bog in ein Quartier, in dem ich noch nie gewesen war, plötzlich stand ich vor dem Häuschen. Es war frisch renoviert, im Fenster hingen Papiersterne. Am Balkonfenster standen ein junger Vater und sein Sohn. «Familie Zemp», stand auf dem Briefkasten. Ich winkte. Sie winkten zurück.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


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Kann langeweile sünde sein?

22. Dezember 2024

Eigentlich brauchte ich nur rasch Internet, aber dann begann ich mich zu fragen, ob Langeweile Sünde sein kann. Ich war in einem Restaurant im Zürcher Niederdorf gelandet. Man landet als Journalistin oft allein in irgendwelchen Lokalen, Raststätten oder Imbissbuden im Untergeschoss von Bahnhöfen. Weil ich nicht unhöflich sein wollte, bestellte ich Pasta.

Ich klappte den Laptop zu. An die hölzerne Decke des Restaurants im Zürcher Niederdorf waren LED-Bildschirme montiert, in denen sich popartige Tortellini-Formationen drehten. Am Tisch neben mir sassen eine Frau und ein Mann, die eine schleppende Unterhaltung führten. Sie schienen sich aus einem freikirchlichen Kontext zu kennen, jedenfalls ging es um «coole Pastoren». Er sprach ein Berndeutsch, das sich in die Länge zog wie eine Träne, die über eine Wange schliert. «Thun isch doch schöner aus Züri», sagte er laut. «Mhm», sagte sie umso leiser. «Fiiret dir ir WG Wiehnachte?», fragte er. «Mhm», sagte sie. Ich begann mich zu fragen, ob die zwei neben mir bald zwangsverheiratet werden sollten. Ich meinte, neidische Blicke zu spüren, als wäre mein Buch das bessere Date.

«Weisch no, d Bärlochers», sagte er irgendwann. Sie schienen auf den Höhepunkt ihres Mittagessens zuzusteuern. «Die haben etwas Verrücktes gemacht, ein Tattoo, glaube ich.» «Was?», fragte sie. Sie war jetzt interessiert. «Vielleicht bin ich falsch, vielleicht kein Tattoo, aber etwas Lustiges war es.» «Mhm », sagte sie. Sie schaute zur Decke, wo ein LED-Knoblauch durch den blauen Himmel flog. Wie einfach es doch eigentlich wäre, einen kleinen Funken zwischen zwei Menschen zu entfachen.

Ja, ist es denn wirklich zu viel verlangt, ein bisschen vorbereitet in all die Tischgespräche zu gehen, die man so führt? Ein, zwei gute Geschichten oder wenigstens eine interessante Frage müsste doch das Minimum sein. An Weihnachten ist es jeweils am schlimmsten: Führt man nicht gerade mit Familienmitgliedern die schlechtesten Konversationen? Versucht weder sie für sich zu gewinnen, noch bemüht man sich, sie richtig kennenzulernen?

Ich dachte an einen Moment mit meiner kleinen Nichte. Wir sassen in ihrem Zimmer auf dem Boden und schäkerten. Sie erklärte mir, warum ich in die Wohnung im Erdgeschoss einziehen sollte. Ich fragte, ob sie dann bei mir wohnen würde, wenn ich schon käme. Sie schüttelte kichernd den Kopf. Ich packte sie, um sie zu kitzeln. Dann schaute sie mich mit ihren grossen Augen an und stellte eine Frage, mit der ich erst in einigen Jahren gerechnet hatte: «Erzählst du mir eine Geschichte von früher?» Ich dachte hektisch nach, doch mir fielen nur zu traurige oder zu schlimme ein. Fast hätte ich eine aus der Kindheit meiner Mutter geklaut, die ich so genau kannte, als wäre sie mir passiert. Ich stammelte etwas von den vielen Bäumen, auf die ich geklettert war, vom Schulweg, den ich nie direkt genommen hatte, aber es waren nur Fakten, die ich noch nicht verbinden konnte. «Mhm», sagte sie.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


| 07
ich und meine klitoris

8. Dezember 2024

Kürzlich sass ich in einem Vortragssaal des Zürcher Volkshauses und fühlte mich wie an einem Tennisturnier in Wimbledon. Ich hatte mich zwischen zwei meiner Freundinnen gesetzt, die einander noch nicht so gut kannten. Vielleicht würde ich ein wenig vermitteln, dachte ich noch, und dann dauerte es keine zwei Minuten, bis sie herausgefunden hatten, dass sie beide Singles waren, mit grossen Ideen und schwachem Kinderwunsch, mit schwangeren Ex-Freunden, die so spiessig geworden waren, wie sie nie hätten werden wollen et cetera pp. So spickte mein Kopf von der einen zur anderen, wie beim Tennis von links nach rechts.

Einer undurchschaubaren Gruppendynamik folgend, wurde es plötzlich still im Saal. Prof. Dr. Daniel Haag-Wackernagel stellte sich ans Rednerpültchen. Er sei «zwar ein Mann, aber sehr verdient», entschuldigte sich die Moderatorin für den Gast. Prof. Dr. Haag-Wackernagel, ein Mann mit schneeweissem Haar und phantastisch gesunder Farbe, lächelte milde. Er war so etwas gewohnt. Er ist Experte für die Klitoris.

Genauer gesagt ist die Klitoris bei Haag-Wackernagels ein Familienprojekt. Der Sohn entwickelt Klitoris­modelle, die man als Ohrringe kaufen kann. Der Freund der Tochter, Textildesigner, entwirft die Stoffe für die Klitoris-Kleiderkollektion. Im Publikum sassen Gynäkologinnen, Körpertherapeuten, Tantramasseurinnen – und wir. Wir empfanden uns als interessierte und gut informierte Zeitgenossinnen – doch wir sollten staunen.

Eines vorneweg: Die Klitoris war nie weg, sie war bloss verschollen. Prof. Dr. Haag-Wackernagel eröffnete mit einer beeindruckenden Serie historischer Abbildungen zur Abschaffung der weiblichen Lust. Von wunderschönen Klitoriszeichnungen in der Renaissance bis zu Abbildungen armseliger kleiner Würmchen im 19. Jahrhundert. Zu verdanken war das vor allem der Kirche – und Leuten wie Isaac Baker Brown, geboren 1811 in Essex, Spezialist für Frauenleiden, der gegen alles Mögliche die Klitorisamputation empfahl. Niemand Geringerem als Prof. Dr. Haag-Wackernagel ist es zu verdanken, dass anno 2022 (ja, genau, vor zwei Jahren) die Klitoris wieder als volles Organ in den deutschsprachigen «Lernatlas der Anatomie» aufgenommen wurde.

Im Übrigen wichtig zu wissen: Alle Säugetierarten haben eine Klitoris. Es gibt eine optimale Streichelgeschwindigkeit der Haut, sie beträgt 1–3 Zentimeter pro Sekunde. Penis und Klitoris sind praktisch identisch aufgebaut. Auch Frauen können Erektionsprobleme haben, nur macht niemand ein grosses Theater darum.

Das Publikum, Sie können es sich vorstellen, wurde immer aufgeregter, Haag-Wackernagels Farbe war so gut wie nie. Getrübt wurde die Stimmung nur beim Thema Labioplastik. Frauen lassen sich häufiger die Schamlippen verkleinern, weil sie denken, das sei schöner – irgendwie auch Amputationen. Wir drei jedoch trugen unsere Klitoris für den Rest des Abends sehr stolz vor uns her. Ich glaube, wir hatten sogar eine kleine Erektion.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


| 06
ein bisschen vermi

24. November 2024

Kürzlich wurde es merklich kälter. An einem dunklen Novemberabend hatte ich mit einem Freund zum Abendessen abgemacht. Wir landeten im wahrscheinlich erfolglosesten Pop-up-Restaurant der Stadt. Neben uns waren noch zwei weitere Gäste da. Es gab weder eine Bedienung noch eine Karte noch eine Auswahl an Speisen. Es gab einen Teller Schmorbraten und als vegetarische Variante eine Art Tomaten-Gemüse-Sauce auf Reis. Wenigstens war da eine riesige Auswahl an Biersorten. Ich wollte beim alkoholfreien bleiben, knickte aber schon bei der zweiten Runde ein.

Der Freund, abgebrochenes Psychologiestudium und künstlerische Ader, war äusserst düsterer Stimmung. «Die Identitätspolitik ist tot», sagte er. «Die Linke muss darüber nachdenken, welchen Anteil sie an der Rückkehr des Autoritären hat. Alle sind auf ihren Egotrips. Davon haben wir jetzt all diese kleinen Musks und Trumps. Spürst du es nicht? Wie aggressiv die Typen ihre aggressiven Autos fahren?» Ich versuchte hilflos, ihn aufzuheitern.

«Subversiv ist jetzt gute Laune», sagte ich. «Gehst du noch in die Sauna?» «Es trifft alles ein, was Mark Fisher geschrieben hat», sagte er. Ich erinnerte mich, dass das kapitalismuskritische Buch Fishers ihm sehr nahegegangen war, und auch, dass Fisher sich umgebracht hatte. Wir waren beim dritten Bier, und ich brauchte dringend eine Lösung. Ich fragte nach Dessert, aber natürlich gab es keines. «Lass uns Vermicelles essen», sagte ich.

Draussen ging ein fieser Wind. Wir liefen durch die Strassen, als wären wir die letzten Menschen auf der Welt. Google Maps führte uns in einen Hinterhof und dann in einen Keller. Als wir unten um die Ecke bogen, blendete uns ein Licht. Wir erkannten eine lange Menschenschlange, ganz vorne am anderen Ende des Raumes eine kleine Theke. Von der Decke hingen neonfarbig leuchtende Vermicelles-Würmchen, fröhliche Spritztuben spazierten der Wand entlang. Es gab einen «Vermi-Shop» mit T-Shirts und Meringues aus Keramik. «Je m’appelle Vermicelle», stand auf einem Poster. Es war furchtbar. Hierhin hatten sich also alle Verschonten zurückgezogen, assen Vermicelles, als gäbe es die Welt da draussen nicht.

Mein Freund lachte etwas wahnsinnig. Er klatschte mir ein Kirschkissen aus dem Shop auf die Hände. «Ich glaub’s nicht. Schau mal da!» Er zeigte aufs Menu, eine dicke, satte Marroni-Wurst lachte uns entgegen: «Hit! 18 Fränkli!» Der Rahm kostete extra. Ich glaube, es war nicht zynisch gemeint.

Kurze Zeit später sass der Freund an einem kleinen roten Tisch hinter einem rosa Coupe-Becher mit Vermicelles und kippte ein Gläschen Vieille Prune. «Es findet doch eine totale Infantilisierung der Gesellschaft statt», sagte er. Er sah aus wie ein Prophet, dem man das Mikrofon abgestellt hatte, weil alle schon gegangen waren. Vielleicht gab es irgendwo ein neues Pop-up. Da suchten sie Vermi. So wie wir.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


| 05
Verdächtig gesund

10. November 2024

Als ich das erste Mal einen Halbmarathon lief, fühlte ich mich wie eine Verräterin. Ich erzählte es niemandem und hoffte, ich würde nicht gesehen. Sportlich und gesund sein war peinlich. Das war in meiner ganzen Jugend so. Ich war Teil der Alcopops-Generation, für deren Trinkgewohnheiten später das Wort «Botellón» erfunden wurde. Als ich 16 Jahre alt war, startete die Präventionskampagne «cool and clean», sie wurde für uns zum Synonym für ein sterbenslangweiliges Leben. Wir tranken unfassbar viel, als wir jung waren, und wir blieben unfassbar lange jung. Ich war schon über dreissig, als ein Freund mir flüsternd gestand, dass er im Winter manchmal auf den Üetliberg rannte. Mit einem gesunden Lebensstil konnte man damals einfach nicht punkten.

Während des Studiums war Alkohol eine Art Lebensphilosophie, wir zelebrierten ihn, ritualisierten ihn; das Eintrinken zu Hause, die Nächte draussen, das Auskatern am nächsten Tag. Stundenlang lagen wir zu viert oder zu fünft auf Sofas und Betten herum und setzten langsam zusammen, was in den vergangenen Stunden passiert war. Immer gab es Geschichten. Wir verziehen uns alle.

Trinken war ein Bruch mit der Konvention, eine Freiheit, die wir uns nahmen. Wir fühlten uns wie Punks, dabei benahmen wir uns einfach daneben. Ich glaube, für uns Frauen war Trinken eine Möglichkeit, auf schambehaftete Weiblichkeitsgebote zu pfeifen. Am liebsten gingen wir in die ältesten Knellen, als wollten wir die Nähe der Generationen spüren, die vor uns hier tranken.

Heute gehen die Leute alle in Spinning-Klassen oder zumindest ins Yoga und Pilates. Vor den Balboa-Tempeln sitzen sie schon um 8 Uhr 30 bei ihrem After-Workout-Matcha-Latte. Der Rausch ist das Dopamin, das nach dem Sport kickt, das Herzklopfen gibt es in der Sauna nach dem Kaltbad. Drogen probiert man höchstens noch im Rahmen von klinischen Pilotstudien aus. Immer mehr Influencer predigen ein alkoholfreies Leben. In München wurde dieses Jahr der erste alkoholfreie Biergarten eröffnet. Nicht, dass ich das schlecht fände.

Selbst meine Lieblingspunks wurden gesund. Erst erzählte Charlotte Roche, warum sie keinen Alkohol mehr trinkt, dann schrieb Virginie Despentes ein Buch über das Nüchternwerden und #MeToo. «Als junger Mensch hasst man immer irgendein altes Arschloch, und später kann man dann leicht übersehen, dass man selbst ein altes Arschloch geworden ist», sagte sie in einem «Spiegel»-Interview. Vielleicht war es bei uns ähnlich. Das Tolle am Gesundheitstrend ist, dass ich und meine Freundinnen und Freunde perfekt hinein altern. Wir hätten sowieso nicht so weitermachen können und lernen nun endlich, auf uns aufzupassen. Etwas, das wir von der Boomer-Generation irgendwie nicht lernen konnten.

Kürzlich rannte ich wieder einen Halbmarathon und war sogar schneller als beim ersten Mal. Die halbe Familie war da, um zuzuschauen. Es gab keinen Grund mehr, es zu leugnen. Ich war jetzt, zwanzig Jahre verspätet: cool and clean.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


| 04
Unser adhs

27. Oktober 2024

Ich weiss nicht, wie es in Ihrer Berufsgruppe aussieht, aber bei uns Medienleuten ist es so: Es hagelt ADHS-Diagnosen. Es vergeht praktisch keine Woche, ohne dass jemand mit einem frischen Päckchen Concerta im Büro herumwedelt. Dabei sind es nicht nur jene, bei denen man es auf den ersten Blick vermuten würde. Es sind ganz normale Kolleginnen und Kollegen, mit tollen Karrieren, interessanten Persönlichkeiten und Talent.

In letzter Zeit tritt die Diagnose so gehäuft auf, dass ich mich zu fragen beginne, ob man den Beruf überhaupt ohne ADHS ausführen kann. Wie sähen Medien aus, wenn sie nicht von Leuten mit ADHS gemacht würden? Zeitungen, so aufregend wie Excel-Tabellen? Storys, so schnörkellos wie Quartalserfolgsrechnungen? Oder ist die Aufmerksamkeitsdefizitstörung der eigentliche Grund für unser Imageproblem? Allerdings sollen Politiker, Schauspielerinnen, Hoteliers, Rettungssanitäter, Notärztinnen, Unternehmer und Forscherinnen ebenfalls typische ADHS-Berufsleute sein.

Sicher gibt es einiges am Journalismus, was ihn für Menschen mit ADHS interessant macht; er ist abwechslungsreich, kreativ, Impulsivität ist ein Skill. Er liefert schnelle Dopaminkicks, und das Talent von Betroffenen, in Stresssituationen einen kühlen Kopf zu bewahren, ist nützlich. Ausserdem sind die Hierarchien flach. Wer gute Sachen liefert, kann sogar ein unzuverlässiges Arschloch sein. Ausser natürlich, man behandelt andere schlecht, das geht jetzt auch bei uns nicht mehr.

Einer der besten Schreiber der Branche, Constantin Seibt, hat in der «Republik» einen phantastischen 15-Teiler über sein Leben mit der Störung geschrieben. Bonustipp für ADHSler: Man kann die Reihe auch als Podcast hören und mehrere Dinge gleichzeitig tun. Wahlweise wirkt die Diagnose bei Seibt wie eine schwere Bürde (höhere Suizidalität, Depressionen) oder eine Superkraft (Kreativität, Hyperfokus). Leute mit ADHS können in eine Art Flow-Zustand der Konzentration geraten. Es gibt Schriftsteller, die schreiben ganze Bücher darin.

Ein toller Freund (okay, mein Freund) bemerkte kürzlich angesichts der Diagnosenflut, dass es sich um eine Neudefinition von Kreativität handeln müsse. Vielleicht kann man nur Ausserordentliches schaffen, wenn man ein bisschen anders denkt als die anderen? Oder halten wir unsere Arbeitswelt einfach nur noch aus, wenn wir voll auf Amphetaminen sind? Am Ende ist vermutlich das Smartphone schuld. Dass wir unser Suchtmittel dauerhaft mit uns herumtragen und uns permanent davon berieseln lassen würden, damit hat unser armes Hirn nicht gerechnet.

Meine Analytikerin ist leider überzeugt, dass ich kein ADHS habe. Aber wie erklärt sie sich dann, dass ich unfähig bin, die Spielanleitung eines Gesellschaftsspiels halbwegs in Würde zu lesen, oder dass alles in mir drin schreit, wenn Sitzungen langweilig werden? Und jetzt bin ich ja noch immer an dieser Kolumne. Eigentlich langweilt sie mich bereits.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


| 03
In der warteschlaufe

13. Oktober 2024

Das Leben im Spätkapitalismus ist sehr gut, wenn alles gut ist. Es sind eigentlich nur die Menschen, die nicht wie gut geölte Maschinen laufen, oder vielleicht bin es einfach ich. Jedenfalls wollten wir zu Beginn der Ferien ein paar Tage in die Berge. Andermatt, wo meine Grossmutter als Mädchen noch mit einem Löffel Polenta aus dem grossen Topf in der Mitte spachtelte und man heute nicht mehr ohne Englisch durch die Gassen kommt. Im Zug musste ich noch am Laptop arbeiten, bis Göschenen würde ich fertig sein. Nach dem Umsteigen bemerkte ich, dass mein Rollkoffer unterwegs nach Airolo war.

Mein Freund machte die erste Bekanntschaft mit der SBB-Hotline, es schienen ausschliesslich Walliserinnen und Walliser da zu arbeiten, fast wie beim Verteidigungsdepartement. Für fünfzig Franken holen die SBB den Fundgegenstand direkt aus dem Waggon, und nach nur zwei Tagen wird er an einen Bahnhof Ihrer Wahl geliefert – wirklich toll. Drei Tage später hassten mich alle Frauen am Schalter in Andermatt, und meine Sachen waren immer noch nicht da. Gemäss Hotline war mein Koffer wahlweise in Bellinzona, in der Zentralstelle oder mit uneindeutigem Aufenthalt, ohnehin müsste ich mit zusätzlichen Gebühren rechnen. Mein Freund reiste ab, ich buchte eine weitere Nacht in Andermatt.

Mir passiert so etwas ständig. Einmal sass ich stundenlang zusammengekauert auf einer Steinbank hoch über dem Comersee und wurde auf der Hotline von Booking.com von den Niederlanden bis nach Bulgarien weitergeleitet, nur weil ich das Wellnesshotel im Bündnerland am falschen Datum gebucht hatte. Man weiss, dass man das Spiel gegen die Maschine verloren hat, wenn man nur noch Menschen am Hörer hat, die nichts wissen oder leider nichts für einen tun können. Die Wut, die einen dann erfasst, kann nur die Falschen treffen, weil alles so eingerichtet ist, dass die Richtigen höchstens über einen Briefkasten auf den Cayman Islands erreichbar wären. Wir sind gefangen in einer endlosen Weiterleitungsschleife, die alles managt, nur den Ärger nicht.

Kürzlich erhielt ich die Nebenkostenabrechnung meiner Miete mit der frohen Nachricht, dass der Saldo zu unseren Gunsten ausgefallen war. Ich schickte meine Kontoangaben zur Überweisung der 500 Franken, aber die E-Mail-Adresse auf dem Briefkopf funktionierte nicht. Dann las ich, dass Immobilienfirma A von Immobilienfirma B übernommen worden war, und dort informierte man mich, dass meine konkrete Immobilie von einem zusätzlichen Verwaltungswechsel zu Immobilienfirma C betroffen sei. «Nach Übergabe der Mandatsunterlagen wird die Zahlung ausgeführt», hiess es in der E-Mail. Es ist Wochen her.

Inzwischen haben sogar todseriöse Unternehmen wie die SBB eine dieser Weiterleitungs-Hotlines eingerichtet. Es geht nicht mehr ohne. Irgendwann habe ich den Koffer unter Zusatzgebühren nach Zürich HB umleiten lassen. Sechs Tage später kam die Nachricht von der SBB: «Ihr Gepäck ist jetzt in Andermatt abholbereit.»

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


| 02
Tote konversation

29. September 2024

Es war ein unkomplizierter Abend, er wollte nicht mehr viel vom Tag. Wir sassen zu viert um einen Tisch, assen Pizza, tranken Hauswein aus einem sizilianischen Keramikkrug und versuchten, so zu tun, als wären wir okay damit, dass der Sommer bereits vorbei war. Wir redeten vorwiegend über Faschismus und Podcasts, wenn ich mich recht erinnere, wobei mir die Podcasts plötzlich wie ein noch stärker unterschätztes Problem vorkamen.

Ich meine, was geht hier eigentlich vor? Heute kann sich in der Stadt kaum mehr blicken lassen, wer keinen eigenen Laber-Podcast betreibt. Mein kleiner Laber-Podcast ist, was vor zehn Jahren «meine Psychoanalytikerin» war. Es wird einfach drauflosgelabert über Vaterfreuden, offene Beziehungen oder Erlebnisbäder in Vorarlberg, es ist egal. Momentan scheint wirklich alles zu funktionieren.

Aber das ist noch nicht einmal das Erstaunlichste. Beliebt sind heute Podcast-Shows. Da zahlen Leute Leuten Geld, um ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich beim Labern aufnehmen. Fünfundvierzig Franken kann man dafür in Zürich verlangen. Sie verstehen das schon richtig: Man könnte sich das Gelaber als Podcast anhören, aber man bezahlt, um dabei zu sein, wie andere Leute reden, und kann währenddessen nicht einmal den Abwasch machen. Bei der Psychoanalytikerin war man wenigstens noch die Host seiner eigenen Show.

Ich bin selbstverständlich vorne mit dabei. Meine Podcast-Biografie begann mit aufwendigen Recherche-Podcasts, die mir erstmals die ganze Dimension des amerikanischen Watergate-Skandals erklärten, und endete bei einer deutschen Liebes-Podcasterin, ohne deren Stimme ich heute praktisch nicht mehr runterfahren kann. Und dann gibt es noch jenen Laber-Podcast mit den zwei Typen. Ich bilde mir ein, ihn als eine Art Feldstudie zu hören, weil ich darin etwas Neues über Männlichkeit erfahren kann, aber am Ende bleibt doch nie etwas haften.

Noch viel schlimmer ist, dass man während des ganzen Hörens kein einziges eigenes Argument formuliert, keine Meinung ausprobiert oder sich halt nicht einmal mit ein paar Aussagen völlig vergaloppiert (entschuldige an dieser Stelle noch einmal, Meret). Podcasts erzeugen das Gefühl einer Scheinnähe zu Scheinmenschen, und sie ersetzen mehr und mehr echte Abende mit Freundinnen. Dabei sind sie eigentlich tote Konversation.

In der neuen Staffel von «Emily in Paris» kommt einmal die Schweiz vor, in einer Szene, in der eine dem anderen rät, «jetzt nicht die Schweiz zu sein». Es geht darum, eine klare Position zu beziehen, die Folge heisst «Grauzone». Es ist natürlich einfach, sich auf diese Weise über die Schweiz lustig zu machen, aber wir sind ja nun wirklich nicht das Land der grossen Rhetoriker. Anstatt performative Gespräche zu hören, setzten wir uns vielleicht lieber einmal mehr zusammen. Nicht dass wir zu viert in der Pizzeria den Faschismus durchschaut hätten, aber wir haben es wenigstens probiert.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»


| 01
Heiter scheitern

15. September 2024

Hallo und guten Tag, ich weiss nicht, wie es Ihnen ging, aber wenn ich an dieser Stelle jeweils las, wie leichtfüssig mein Vorgänger durch sein Leben tänzelte, da wurde ich grün vor Neid, erinnern Sie sich? Wie er so über ein Minimum an Struktur für seinen Alltag nachdachte. Wie er damit angab, in stoischer Gleichmütigkeit zu reagieren, wenn er seine Luxusbrille beim Schwimmen verlor. Und dann diese Strandbar auf der griechischen Insel, wo er einen Teil seines Jahres verbrachte, man konnte den Meereswind praktisch riechen. Jetzt komme also ich, alle vierzehn Tage, im Wechsel mit meinem Co-Kolumnisten, keine Ahnung, was er so schreiben wird, aber eines ist sicher, ich sehe es anders.

Im Gegensatz zu den beiden stehe ich knöcheltief im Morast. Ich führe ein gewöhnliches Leben als halb­junge und halbdiskriminierte Frau. Ich habe leichte Schlafstörungen, bin oft gestresst, und jeden Monat denke ich, alles ist am Ende, und dann redet meine App mir ein, dass ich nur prämenstruell sei. Während es bei meinem Vorgänger total charmant und fast schon subversiv wirkt, wenn er über seine Augenlid-OP schreibt, ist Schönheit für mich kompliziert. Irgendwann habe ich festgestellt, dass man mich im Job mit jeder neuen Falte ernster nimmt. Also kommen Schönheits-OP und die üblichen Botox-Therapien für mich nicht infrage. Trotzdem muss ich darauf achten, möglichst so attraktiv zu bleiben, dass man mich noch eine Weile überhaupt wahrnimmt. Es ist eine Gratwanderung, Sie kennen es.

Allgemein scheint mir das Frausein mit seinem Kinderkriegen und Karrieremachen, seinem Nett-, Erfolgreich-, aber niemals Bedrohlichsein am ehesten mit der olympischen Disziplin Kajak-Cross vergleichbar. Ich hoffe, Sie haben sie nicht verpasst, diese irrwitzigen Abfahrten auf der künstlichen Wildwasserströmung. Alles reisst in eine Richtung, die Wellen schlagen einem ins Gesicht, und als wäre das nicht genug, müssen Aufwärtstore oder – noch schlimmer – Kenterrollen absolviert werden. Das heisst: einfach einmal voll untendurch. 

Wenn mir alles zu viel wird, also ungefähr einmal pro Woche, beschäftige ich mich jeweils mit irgendwelchen Diagnosen, Hypersensibilität zum Beispiel, nur um dann zu merken, dass ich irgendwo auf dem Spektrum bin, aber doch nicht richtig dabei. Ein bisschen so ist auch meine Generation, späte Achtziger, nicht richtig dabei; beim Punksein wie die Generation X, beim Glücklichsein wie die Boomer und beim Ambitioniertsein wie die Gen Z. Wir sind nicht richtig klimabewegt, aber auch keine echten Digital Natives. Wir sind die Kinder des Plastikbooms und vielleicht deshalb seltsam melancholisch. Wir sind die, die zu den Therapeutinnen rennen müssen, um die Traumata ihrer Eltern und Grosseltern endlich aufzuarbeiten.

Aber keine Angst, ich werde meine inneren Verletzungen an dieser Stelle nicht überbetonen. Bei Männern ab sechzig Jahren wirkt das mutig, bei mir jammerig. Ich bin deshalb schon einen Schritt weiter; ich scheiter heiter.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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