«Liebe schmeckt nach Walfisch-Kotze»

Teil 5: Zwei, die kochen, um zu leben

Ihr gehört das Restaurant «Gül» in Zürich, ihm das «Rosi»: Seit 13 Jahren sind die beiden Spitzenköche Elif Oskan und Markus Stöckle ein Paar. Sie kochen so, wie sie sich lieben.

Interview: sacha batthyany & rafaela roth
NZZ am Sonntag Magazin, 24. März 2024

 

Wir haben ein paar Speisen aus Ihrem Kochbuch nachgekocht, Frau Oskan. Gegrillte Zucchini an Joghurtsauce und Pide mit Brokkoli. Wie ist das, wenn man seine eigenen Rezepte plötzlich auf fremden Tellern sieht?

Elif Oskan: Es ist sehr schön.

Aber Sie sehen Mängel?

Sie: Ich sehe ganz viel Liebe. Es gibt keine Mängel beim Kochen. Die Brokkoli schauen alle in die gleiche Richtung, man merkt, dass Sie sich Mühe gegeben haben, was etwas Fürsorgliches hat. In der türkischen Sprache könnte ich das viel wertschätzender ausdrücken. Zu jemandem, der für einen kocht, sagt man eline sağlık olsun, wörtlich übersetzt: Gesundheit an deine Hände.

Wen würden Sie gerne bekochen, den Sie noch nie bekocht haben?

Sie: Meine Grossmütter. Sie sind gestorben, bevor ich Köchin wurde. Ich würde sie ins «Gül» einladen und sie wie Königinnen behandeln. Ich sage bewusst «Grossmütter» in Mehrzahl, weil ich nicht sicher bin, wer mich am meisten inspiriert hat. Ich koche mit dem weiblichen Teil in mir, dem Erbe aller Frauen meiner Linie.

Und Sie, Herr Stöckle, wen würden Sie bekochen?

Markus Stöckle: Karl Valentin, den melancholischen Komiker, eine tragisch-komische Figur, der sich in der schlimmsten Zeit während der Nationalsozialisten eine Leichtigkeit bewahrte. Ich würde ihm die perfekten Semmelknödel kochen.

Die Weisswürste haben wir für Sie zubereitet, Herr Stöckle, weil Sie aus Bayern kommen. Liegen die schon zu lange im Wasser?

Er: Die Dauer spielt keine Rolle, das Wasser darf nicht zu heiss sein, sonst bleiben sie nicht fluffig.

Bitte essen Sie.

Er: Essen hat immer etwas Sinnliches. Wenn man bedenkt, was man früher gegessen hat, sehr viel mehr Wild und Innereien, dann hat Essen auch etwas Animalisches. Da sind wir ganz nah mit dem Ursprung des Universums verbunden. Die Ammoniaksulfate, diese Gerüche, die auch ein wenig geil sind, weil: Echli stinke muess es. Wir inhalieren Moleküle, wenn wir essen. Wir inhalieren Bausteine des Universums und auch ein wenig uns selbst.

Gibt es Mahlzeiten, die Sie nie vergessen werden?

Er: Klar, ich erinnere mich an sie wie an alte Freunde. Das «Astrance» zum Beispiel, unser erstes Mal in Paris.

Sie: Diese Consommé mit den Langustinen. So präzise und so schön gekocht.

Er: Da war diese Korianderblüte, die in meinem Mund explodierte. So ein Essen ist Bildung.

Essen Sie nur in Spitzenrestaurants oder auch an Tankstellen?

Sie: Überall, aber wenn ich nicht weiss, was uns erwartet, wähle ich auf der Karte den sicheren Wert, während Markus sich für das Experiment entscheidet: Hühnerfrikassee mit speziellen Pilzen etwa.

Leiden Sie am Zwang, die Teller leer zu essen?

Er: Wir flogen neulich mit Turkish Airlines, da gab es Köfte. Ich hatte es schon gerochen, dass das nicht geil kommt, aber ich wollte wenigstens nachsehen, ob sie wirklich so schlimm sind, weil ich das türkische Essen doch liebe. Ich musste es liegen lassen.

Wie schmeckt Elif, Herr Stöckle?

Sie: Eine tolle Frage.

Er: Elif ist ein Gericht mit viel Säure, spritzig und frisch, aber trotzdem mit viel Tiefe. Ein komplettes Gericht, das dich wie eine Decke zudeckt. Es gibt in der Türkei eine sogenannte Mutter-Tochter-Suppe, an die ich jetzt denke: ein Eintopf voller Liebe und Geschmack, tief verwurzelt in der Kultur, mit etwas Junglauch an der Seite oder Sauerampfer.

Wie schmeckt Markus?

Sie: Wie ein Vanilleglace, das sehr kompakt ist, sehr cremig, aber nicht zu rahmig. Eine gewisse Säurenote und ganz viel Vanille, dazu kommt eine leichte Kaffeenote für das Karamellige und Maskuline. Es wird nicht mit einer Waffel serviert, sondern mit einer Prise Salz.

Wie schmeckt Liebe?

Er: Wie Walfisch-Kotze, Amber, eines der teuersten Aromen der Welt. Wenn du einen Brocken davon findest, bist du Millionär.

Dann ist sie etwas Exklusives, die Liebe.

Er: Amber wird in der Parfumindustrie benutzt. Die Ablagerungen entstehen, wenn Wale Schnabeltiere und Ähnliches verschlucken. Irgendwann stossen sie das aus. Es hat einen sehr mastigen Geruch, sehr lieblich, floral, creamy, ähnlich wie der Geruch eines Neugeborenen. So schmeckt die Liebe.

Lassen Sie uns anstossen. Es ist elf Uhr vormittags, aber was soll’s?

Er: Normalerweise machen wir das nicht, an Arbeitstagen. Aber ein Gläschen. Übrigens: Haben Sie schon mal Weisswürste gezuzelt?

Ge-was?

Sie: Oh Gott.

Er: Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, mit vier Brüdern. Meine Oma hatte keine Zähne, da war das immer das Grösste, der zuzuschauen, wie sie die Würste zuzelt. Man schiebt den Unterkiefer leicht nach vorn und saugt sie aus. Oh, da ist aber viel Nelke drin.

Warum bekochen Menschen sich die ganze Zeit – was soll diese ständige Fütterei?

Er: Wären wir als Babys nicht gefüttert worden, wären wir tot. Nie wieder nehmen wir so viele Aminosäuren zu uns wie an der Brust der Mutter. Diese frühen Erfahrungen sind prägend. Überhaupt ist die Kindheit bei unserem Verständnis vom Kochen sehr wichtig. Da ist diese Leichtigkeit, die man als Kind hat und die wir als Erwachsene wieder suchen. Das Essen kann einem dabei behilflich sein, sie wieder aufleben zu lassen. Wenn ich Kässpatzen serviere, jauchzen die Gäste.

Was ist das?

Er: Käsespätzli, wie ihr sagt. Wir servieren auch Spätzle mit Sauce. Da fallen manchen die Augen aus. In Bayern, da wächst man mit Spätzle und Sauce auf. Manchmal lege ich den Gästen einen viel zu grossen Löffel hin, damit sie sich wie ein Kind fühlen.

Wieso sucht man als Koch nach den Geschmäcken der Kindheit?

Er: Weil es unsere Wurzeln sind und sie uns berühren und wir bei manchen Gerichten Gänsehaut bekommen. Man kramt beim Kochen in seiner eigenen Geschichte.

Kochen ist Psychoanalyse. Träumen Sie von Essen?

Er: Immer.

Sie: Früher träumte ich vom Stress im Betrieb und von der Angst, nicht damit umgehen zu können.

Er: Ich habe ein Büchlein neben mir im Bett und schreibe kurz vor dem Einschlafen die wildesten Dinge auf. Soll ich vorlesen?

Sie: Darf ich? Neulich habe ich einen Eintrag gelesen in deinem Handy. (Elif Oskan schnappt sich Markus Stöckles Handy.)

Moment, sie darf alles in Ihrem Handy lesen?

Er: Ich habe nichts zu verstecken.

Sie: Wir haben sogar denselben PIN-Code.

Sie haben keine Privatsphäre, keine Geheimnisse?

Er: Klar haben wir die, aber doch nicht im Handy. Die dunkelsten Ecken meines Gehirns soll Elif nie zu Gesicht bekommen.

Sie: Das Handy ist doch nicht privat! Wir teilen unsere Daten mit Google, aber nicht mit unserem Partner?

Guter Punkt. Noch eine Runde Prosecco? (Die Köche verneinen, die Journalisten nicken.)

Sie: Darf ich jetzt endlich lesen? (Sie fängt an zu lesen, als wär’s ein Gedicht – und es ist ja auch eines!) «Brezel Mille-feuille – flach, beschwert gebacken, mit was gefüllt? Sweet? Savoury? Just some sort of great cream? Vanilla and Lauge? What happens when you cook Lauge mit Gemüse?»

Solche Ideen setzen Sie auch um?

Er: Wir haben im Restaurant eine Wand mit Ideen, die wir verfolgen. Moment, ich erhalte ständig Nachrichten vom Sous-Chef und muss zurückrufen, darf ich?

Wo brennt’s?

Er: Beim Lamm. Und bei den Arschbackenringen.

Wo?

Er: Wir feiern bei uns im Restaurant eine Hommage an Alois Brummer, den Urvater der bayrischen Pornografie, und kochen Füdlibacken. Der Sous-Chef will wissen, was er den Lieferanten sagen soll.

Dann nutzen wir die Zeit und stellen Ihnen ein paar Fragen, solange er weg ist: Frau Oskan, was ist Markus für ein Koch?

Sie: Es gibt Köche, die sind gut, und es gibt Köche, die sind genial. Und Markus ist genial. Er ist besser als ich, und das ist okay so. Er ist sehr authentisch und furchtlos. Nicht alle Menschen haben eine solche Passion, und ich freue mich für ihn, dass er sie ausleben kann. Markus’ grosse Liebe ist das Kochen.

Nicht Sie?

Sie: Es ist wie bei jedem Künstler: Seine Art zu kochen ist die Essenz seines Seins. Sie ist sein Code.

Würden Sie seine Käsespätzle aus anderen Käsespätzle herausschmecken?

Sie: Hundert Prozent. Ich bin 13 Jahre mit ihm zusammen. Ich erkenne seine Handschrift. (Markus kommt wieder in den Raum.)

Wir haben Elif gefragt, ob sie Ihre Gerichte erraten würde.

Er: Ich würde auch erraten, wenn sie es gekocht hat. Diese Art, wie sie abschmeckt und das Gesamtheitliche nie aus den Augen lässt. Das kann nur sie.

Was würden Sie essen, wenn Sie nur noch einen Tag zu leben hätten?

Er: Kömbe, ein Gericht von Elifs Mutter, völlig klar. Eine Teigtasche mit Kartoffeln, Fleisch und vielen Gewürzen, aussen ist es sehr knusprig, innen ganz feucht, boah.

Was bedeutet Liebe, Frau Oskan?

Sie: Geborgenheit, das Mütterliche. Liebe ist, zu sehen, wenn jemand Hunger hat, wenn es jemandem gut geht oder wenn jemand nicht so gut aussieht. Liebe ist, zu wissen, wann man nichts zu sagen braucht und wann man für jemand anderen etwas sagen muss, weil er es nicht kann.

Wer von Ihnen bringt was in die Beziehung mit?

Er: Ich bringe Chaos. Sie bringt Ordnung.

Sie: Wenn wir einen Berg besteigen müssten, die Welt ginge unter, würde ich es bis zur Hütte schaffen und ihn mitziehen. Markus hätte einen Meltdown.

Sind Sie ein perfektes Paar, weil Sie sich ergänzen?

Er: Perfekt zu sein, ist doch nicht das Ziel. Und ausserdem verändern wir uns laufend.

Sie: Veränderung ist etwas Gutes. Die Frage ist dann, ob es sich um eine Phase handelt oder ob sich die Pole verändern. Das Allerwichtigste dabei ist: Man darf sich nicht im Stillen verändern, weil man dann auch nicht erwarten kann, dass die Beziehung standhält. Wenn ich mich verändere, muss ich es kommunizieren. Und auch die Liebe an sich verändert sich. Dass Liebe blind macht, beschreibt nur die Anfangszeit. Irgendwann muss man sich Dingen stellen, die man vielleicht nicht hören, spüren oder riechen will.

Was sind das für Dinge?

Sie: Die Socken, die Markus überall liegen lässt. Einmal hat er es extra auf die Spitze getrieben und eine lange Spur mit Socken gelegt, worauf ich lachen musste, als ich spätabends nach Hause kam. Ich musste das auch lernen: Ich bin die Partnerin von Markus, nicht seine Mutter. Es hat zwar etwas Schönes, dieses Fürsorgliche, aber ich musste lernen, nicht in diese Muster zu verfallen.

Kennen wir. (Elif Oskan steht auf, holt Wasser und schenkt allen nach.)

Sie haben sich in England kennengelernt, im «Fat Duck» von Heston Blumenthal, wo Sie beide arbeiteten. Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie sich zum ersten Mal sahen?

Sie: Es war im Durchgang vom Schokoladenraum zum Labor. Wir trugen schwarze Hosen, schwarze Lederschuhe und eine englische Kochjacke aus Baumwolle mit eingefassten Knöpfen. Markus hatte noch keinen Schnauz. Er gab mir die Hand und stellte sich vor.

Er: Ich war schon sehr lange da, und Elif kam neu dazu. Als ich sie sah, dachte ich nur: Wow.

Sie: Es war ein Gefühl, als würde die ganze Welt verschwinden, und das wäre okay.

Und wie ist das Gefühl, wenn Sie ihn heute sehen?

Sie: Anders. Eine Mischung aus all den Momenten, die wir beide gemeinsam erlebt haben: Erinnerungen, Plänen, Träumen. Ein grosses Ganzes aus schönen und nicht so guten Dingen, auf die wir gemeinsam zurückblicken und die wir ganz offen und entblösst miteinander teilen. Markus ist eine Erweiterung von mir selbst, ohne dass ich mich verfälschen muss. Er ist aber auch nicht wichtiger als ich.

Herr Stöckle, Elif sagte, sie habe etwas Mütterliches. Wie ist das bei Ihnen: Werden Sie in der Liebe zum Vater?

Er: Lustig, wir hatten vor zwei Tagen eine ähnliche Diskussion, als wir von Laax im Auto zurückfuhren.

Wer fährt?

Er: Ich. Einen Fiat 500. Ich bin zwar ein offener Mensch, aber manchmal, da falle ich ins Gegenteil: Wenn ich etwas nicht nachvollziehen kann, verschliesse ich mich und wende mich ab. Ich kann stur sein. Das habe ich von meinem Vater.

Sie: Dafür hast du eine Eigenschaft, die ich an dir liebe: Du hast keine Angst vor dem Kindlichen, diese Entdeckermentalität, die Explorationslust, das Wilde.

Wilde Explorationslust – gilt das auch in der Liebe?

Sie: Oh, jetzt wird es mir zu privat.

(Stille.)

Noch mehr Prosecco? (Köche: nein, Journalisten: ja.)

Sie: Als Kind hat man etwas Furchtloses, das wollte ich sagen: Als Kind springt man oft, irgendwann aber hört man auf zu springen – dann wird es kompliziert. Markus springt bis heute.

Sie stehen beide jeden Abend in Ihren Küchen und arbeiten unglaublich viel. Ist die Arbeit, was Sie am meisten verbindet?

Er: Sich voll und ganz auszuleben, bedeutet auch eine geistige Freiheit. Oft habe ich beim Kochen das Gefühl, ich laufe einen Gang hinunter, rüttle an verschiedenen Türen, bis eine aufgeht, springe hinein und merke, dass ich wieder vor Türen stehe. Je länger ich koche, desto mehr habe ich dieses Gefühl, nichts mehr zu wissen. Das ist ein wunderschönes Gefühl.

Sie sind extra für Elif nach Zürich gezogen. Nicht gerade der aufregendste Ort für einen Koch.

Er: Als ich Deutschland verlassen hatte, dachte ich tatsächlich, ich würde am liebsten in Japan leben. In die Schweiz ging man als Koch nur des Geldes wegen. Hier kommt die Gastronomie aus der gehobenen Hotellerie. Ich aber habe immer lieber in kleinen, speziellen Restaurants gearbeitet. Ich dachte, das Schweizer Bauernvolk, protestantisch dazu, kenne traditionellerweise kein wildes Wirtshaustreiben. Aber dann wurde ich überrascht und fand hier in Zürich eine wunderbare Gastronomieszene, auch mit freakigen Nischen.

Schaffen wir es deshalb in der Schweiz nicht, an langen Tafeln zu sitzen und uns stundenlang zu unterhalten? Statt uns gehen zu lassen, räumen wir dauernd den Tisch auf.

Sie: Das ist Kultur! Es sind Gewohnheiten, die sich auch hier ergeben könnten, wenn wir sie weitergeben. Wir haben dafür den Apéro. Der ist doch extrem toll.

Was hat es mit dem Apéro auf sich?

Sie: Es ist der Ort, an dem man nicht sicher ist, was noch passiert. Wir bestellen uns etwas Alkoholisches, gern Wein, Bubbles sind wichtig. Wir haben uns Zeit genommen, haben Lippenstift aufgetragen, uns die Haare gekämmt, und dann prosten wir uns zu und schauen uns in die Augen, cin cin! Das ist doch wunderschön. Ich bin immer erschüttert, wenn die Leute im Ausland einfach drauflostrinken. Wir müssen das erste Glas zelebrieren. Es ist aber auch sehr schweizerisch, zu sagen: «Hey, von 17 bis 19 Uhr – Lust auf einen Apéro?» Danach ist man wieder frei, kann essen gehen oder nach Hause.

Wohnen Sie eigentlich luxuriös?

Sie: Was ist Luxus?

Wie sieht Ihre Küche aus?

Sie: Wir wohnen noch in Miete. Und suchen uns einen passenden Ort, was aber nichts mit Luxus zu tun hat. Für mich hat es eine andere Bedeutung, was sicher mit meiner Herkunft zusammenhängt. Ein eigenes Haus zu besitzen, ist für meine Familie ein Symbol der Stabilität. Mein Zuhause war immer ein sehr spezieller Ort für mich, egal, wo und wie wir wohnten. Es war ein Ort der Ruhe und des Respekts. Ich liebe Ordnung. Wenn man bei mir in der Küche eine Schublade aufreisst, ist sie geordnet. Ich könnte vier Stunden Besteck sortieren.

Eine Form der Psychohygiene?

Sie: Vielleicht. Im Restaurant ist alles sehr stressig und schnell, und ich liebe diesen Buzz. Aber ich liebe auch die Ruhe und die Me-Time. Es ist ein schönes Gefühl, das sich nur zu Hause einstellt: diese Sicherheit des Nichtgesehenwerdens.

Warum haben auffallend viele Köche ein Ego-­Problem, Herr Stöckle?

Er: Die Menschheit hat ein Ego-Problem! Ich bin im Allgäu aufgewachsen. Als ich mit meiner Oma einmal im Auto fuhr, sagte sie mir: «Weisst du, uns hat man alles genommen, aber das war nicht so schlimm, denn die anderen hatten ja auch nichts.» Heute ist es ganz anders: Wir haben alles und sehen die ganze Zeit, dass die anderen noch mehr haben. Für meine Psychohygiene ist es deshalb wichtig, dass ich keine sozialen Netzwerke konsumiere. Ich möchte diesen Neid nicht empfinden.

Gleichzeitig haben Sie den sozialen Netzwerken viel zu verdanken. Das Essen hat heute einen anderen Stellenwert. Köche sind plötzlich Rockstars.

Sie: Die neuen Plattformen haben für unsere Branche einen enormen Sog entwickelt. Das brachte einerseits eine Wertsteigerung, weil viel mehr Menschen, die dieses Handwerk ausüben, eine Anerkennung erhalten, die vorher nur einer Elite vorbehalten war. Für meine Eltern war es ein Weltuntergang, als ich ihnen mitteilte, dass ich Köchin werden wolle. Und heute reissen sich Eltern darum, ihre Kinder zu uns in die Lehre zu schicken.

In einer TV-Kochshow mit Tim Mälzer hatten Sie, Frau Oskan, einen sehr emotionalen Moment und fingen an zu weinen. Haben Sie in der Küche die stärksten Emotionen?

Sie: Ich habe ständig emotionale Momente. Ich finde Weinen etwas Schönes. Ich möchte diese Türe nicht schliessen, sondern fähig sein, zu empfangen, zu fühlen, zu spüren. Die Fernsehshow «Kitchen Impossible» mit Tim Mälzer ist deshalb gut, weil sie dokumentarisch ist. Der Ort, an dem wir drehten, war magisch: ein Food-Stand in Singapur, in dem eine Frau namens Jolene Hon ein Gericht kochte, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte, die es wiederum von ihrer Mutter übernommen hatte.

Jolenes Familiengeschichte?

Er: «Singapore Oyster Cake»: eine Sojamasse mit ein wenig Ei, Krustentieren, Schweinefleisch und Austern.

Sie: Jolene kocht dieses Gericht nun schon seit sechzig Jahren, sechs Tage in der Woche, und wir durften es von ihr lernen. Das war sehr berührend, und es ist auch der Grund, warum ich koche.

Sie wollen sich spüren?

Sie: Ich will etwas weitergeben. Restaurants sind Orte der Begegnungen und Orte des Austausches von Geschichten. Deshalb sollen sie einer breiten Masse zugänglich sein: Essen ist nicht elitär. Essen ist Liebe.

Über diese Interview-Serie:
In den kommenden Monaten veröffentlichen wir an dieser Stelle Gespräche über die Liebe mit Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft, denn wir sind der Meinung: Sie kommt zu kurz.

❤️ wins.

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