Primeur. Prestige. Pleite.

Früher deckte der Journalist Markus Häfliger Skandale auf. Nun lobbyiert er für die Heilsarmee. Was bleibt von einem Beruf, wenn selbst die Besten aufgeben?
NZZ am Sonntag, 10. Februar 2025

 Als der bisher bitterste Herbst des Schweizer Journalismus zu Ende geht, steht Markus Häfliger in der Küche eines Obdachlosenheims im Berner Botschaftsviertel und macht sich einige Notizen. Bratfett hängt in der Luft, zwei junge Männer haben sich Würstchen gemacht. Man sehe hier den abrutschenden Mittelstand, sagt der Leiter des Hauses, Hunziker heisst er. Er fährt sich durch die länglichen Haare. Früher seien die Übernachtungszahlen im Frühling eingebrochen, heute sei man das ganze Jahr ausgelastet. Er selber, Hunziker, habe auch bloss Schwein gehabt. Dies sei ein Haus, das alle aufnehme. «Deswegen arbeite ich für die Heilsarmee.» Er führt seine Hand zum Herz, da hängt der Pin der Hilfsorganisation, rotes Wappen, weisse Schrift. Häfliger nickt, notiert einige Sätze in sein Buch. «Könnte doch eine Geschichte sein, der Hunziker», wird er später sagen. Nur, dass er selber sie nicht mehr schreiben wird. Häfliger macht keine Geschichten mehr. Seit diesem Winter ist er Lobbyist für die Heilsarmee.

Häfliger war ein ausserordentlicher Journalist, einer der Grossen der Branche. Zweiundzwanzig Jahre lang berichtete er als Bundeshauskorres­pondent aus Bern. Er war einer der Politjournalisten, dem die Preise und Primeure, die Exlusivgeschichten nur so zuzufliegen schienen. Er war Journalist des Jahres 2015 und ein Vorbild für den Nachwuchs. Ohne Häfliger würde der Ständerat heute noch per Hand abstimmen, und die Öffentlichkeit wüsste nicht, wer auf welcher Seite steht. Die Schweiz hätte sich ohne seine Artikel im Sommer 2022 vermutlich davor gedrückt, Kriegsverwundete aus der Ukraine aufzunehmen. Und wir alle hätten womöglich nie oder viel zu spät erfahren, dass die Unterschriften für Volksinitiativen zum Teil gefälscht sind.

Häfliger war ein Journalist, den selbst erbitterte Konkurrentinnen als Kollegen schätzten und dem Politiker aller Parteien vertrauten. Als vergangenen Sommer sein Abgang bekanntwurde, ging ein Raunen durch die Branche. «Häfliger geht!», hiess es auf den Fluren der Redaktionen. «Häfliger geht?» Heisst das, das Spiel ist schon verloren? Sein Abgang stach unter all den Abgängen heraus wie ein Rauchzeichen über dem Medienplatz. Was erzählt es, wenn einer der besten Journalisten nicht mehr an den Journalismus glaubt? Und wie konnte das passieren?

Markus Häfligers Geschichte ist einerseits seine persönliche und andererseits eine über die Schweizer Medienkrise. Es ist eine Geschichte, die man streng genommen als Journalistin nicht schreiben kann, man ist zu befangen. Im Zeitungsjournalismus kennen sich, zumindest von weitem, irgendwie alle. Auch ich kenne Häfliger von weitem, aber wir waren nie im gleichen Team. Für diese Geschichte lernten wir uns kennen. Man solle den eigenen Berufsstand nicht schlecht machen, heisst es manchmal über Geschichten wie diese, und so was interessiere doch sowieso nur Leute aus den Medien. Aber wer soll die Medienkrise beschreiben, wenn nicht die Journalistinnen und Journalisten?

Ein beginnender Höhenflug

Über der offenen Schranktür hängen Badehosen. Das Büro unter der Dachschräge des Medienzentrums, gleich neben dem Sitz der Schweizer Landesregierung, ist eng und stickig. Schreibtische, Bildschirme, Kaffeetassen, Proseccoflaschen, ein Karton mit einer Schweizer Landeskarte stehen herum. Markus Häfliger tritt genau so auf wie das Büro der Bundeshausredaktion des «Tages-Anzeigers»: unprätentiös.

Bürstenschnitt, Brille, blaues Hemd, er könnte Beamter sein. Häfliger ist kein cooler Hund, der das Abenteuer sucht und sich zur Hauptfigur von Gonzo-Reportagen schreibt. Er ist das bleiche Gesicht hinter seinen Geschichten. Er nimmt das Telefon in die Hand; wenn er vom Rücktritt einer Bundesrätin hört, lässt er die Pizza stehen und rennt aus dem Restaurant. Oder er verschiebt den Feierabend, um an einem geheimen Ort noch jenes Dokument abzuholen, das endlich seine Geschichte belegt. Bundesbern funktioniert wie eine Bühne, auf der alle ihre Rollen spielen: Journalisten, Lobbyistinnen, Politiker, Beamtinnen. Profis wissen das und nehmen es hin, auch wenn sie sich gnadenlos übereinander aufregen.

Jetzt sitzt der schlaksige Mann gekrümmt zwischen Kartonschachteln und Aktenschränken und versucht seiner Vergangenheit eine sinnvolle Ordnung zu geben. «Ghadhafi/Jean Ziegler», «WTO/Waffenexporte/Taiwan» oder «Korruption beim Bafu» steht in dicker Filzstiftschrift auf den überquellenden Mäppchen auf seinem Schoss. Einige dieser Papiere waren vor Jahren noch so heiss, dass Bundesbeamte ihre Jobs und Häfliger seinen Ruf riskierte. Jetzt sind es Erinnerungen. Häfliger bleiben nur noch sechs Arbeitstage als Journalist, Ende August endet sein Vertrag. Eine Exklusivrecherche hat er noch. Irgendwie müsste jetzt nur noch die Seele mit.

Sein Blick bleibt an Fotos hängen, er neben der CVP-Bundesrätin Ruth Metzler, gleich nachdem sie ihm das erste Interview nach ihrer bitteren Abwahl gegeben hat; er mit dem FDP-Bundesrat Pascal Couchepin am Flughafen von Tel Aviv. Mit Couchepin führte er das spektakulärste Interview seiner Karriere. «Staatskrise», titelte am Tag darauf der «Blick». Das war 2004 – Häfliger hat das Tonband noch. Darauf spricht Couchepin über ein langweiliges Sachdossier, bevor er plötzlich sagt, Christoph Blocher sei eine Gefahr für die Demokratie. Die SVP betrachte das Volk als Masse, die man verführen könne, und betreibe Manipulation. Ein journalistischer Jackpot. Dass ein Bundesrat einen anderen öffentlich kritisiert, kommt praktisch nicht vor.

Häfliger kennt das Bundeshaus besser als viele Parlamentarierinnen. Er ist seit fast dreissig Jahren Journalist. Er hat die SVP gross werden sehen, die Vorschläge für die neoliberale Wende erlebt und etliche Anläufe im Europadossier verfolgt. Er kennt alle Abläufe und weiss, welche Toilette die sauberste ist. Ein Bundeshausjournalist lebt vom Vertrauen, und das war Häfligers Erfolgsgeheimnis. Er habe diesen frischen, aufrichtigen, engagierten Blick, ohne eine eigene Agenda zu verfolgen, sagen Leute, die mit ihm gearbeitet haben. Er sei nie zynisch geworden. Zudem sei er der Kollege gewesen, der, bevor er den Arbeitgeber verlassen habe, noch die Kollegin angerufen und sie ermutigt habe, Lohn zu verhandeln, sie sei massiv unterbezahlt. Leute wie er seien die Torte und nicht die Kirsche, sagt jemand, sie seien das Rückgrat einer Redaktion. Journalisten, die ihr Handwerk im ursprünglichsten Sinn verstehen: als Watchdogs der Demokratie.

Wenn er so etwas über sich hört, ist es Häfliger peinlich, klar. Er habe einfach immer versucht, fair mit allen umzugehen, sagt er. Sein Ziel war es, die Wahrheit herauszufinden – und wenn das nicht gelungen sei, habe man ihn von weitem ausrufen gehört. «Auch wenn heute das Gegenteil behauptet wird. Es gibt Meinungen, es gibt Einschätzungen, und es gibt in vielen Fragen eine faktische Wahrheit. Diese versuche ich als Journalist zu finden.»

Die Tür geht auf, Philipp Loser rauscht ins Büro. Der Inlandjournalist und Politkolumnist wirkt immer so, als recherchiere er gerade gleichzeitig einen Riesen-Scoop, verhandle mit einer Quelle und schreibe ein Buch. «Wenn jemand wie er keine Zukunft im Journalismus mehr sieht, muss das alle, die zurückbleiben, mit grösstmöglicher Furcht erfüllen», sagt er. Für einmal unironisch. Ironie ist eine Angewohnheit, die viele Medienleute pflegen. Vielleicht ist es so einfacher, mit den Zumutungen der Gegenwart umzugehen.

Die fetten Jahre sind vorbei

Markus Häfliger stieg in den Journalismus ein, als gerade noch alles gut war. Man schnitt die Titel mit Japanmesser, faxte die Zitate, und einige Freaks hatten schon ein Handy. Es war 1994, die Verlage machten Millionen, was in der Zeitung stand, spielte praktisch keine Rolle. Häfliger war 24 Jahre alt und kam frisch vom Studium der Internationalen Beziehungen in Genf zum «Aargauer Tagblatt», wo man ihn zum Korrespondenten Wynental/Suhrental machte. Statt um Weltpolitik ging es nun um Verkehrsinseln und Einsprachen gegen das Schulhausprojekt. Er blieb fast fünf Jahre und lernte von seinem Kollegen, Franz Bohnenblust, was er später im Bundeshaus brauchte. Bohnenblust war ein leidenschaftlicher Lokaljournalist, der die Konfrontation mit Politikerinnen und Kleinstadtmatadoren nicht scheute.

Häfliger war das nicht naturgegeben. Er war ein angepasstes Kind, der älteste von vier Brüdern, immer schon gläubig. Der Vater war evangelischer Pastor, die Mutter Hausfrau. Von der Mutter lernte er, für andere zurückzustehen, und vom Vater, was Glaubwürdigkeit bedeutet: «Als Sohn des Pastors siehst du, wie der Mensch auf der Kanzel unter der Woche lebt, und das stimmte für mich überein», sagt er. Immer schon ging es ihm irgendwie um Wahrheit. Der Vater musste etwa alle acht Jahre die Gemeinde wechseln, und so wuchs Häfliger in Wattwil, Dübendorf und Winterthur auf und wohnte als junger Mann in Lenzburg. Das nutzte er später, um rasch eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu kreieren: Je nachdem kam er aus Zürich, dem Aargau oder aus St. Gallen.

Als Häfliger den Aargau verliess, waren das «Aargauer Tagblatt» und das «Badener Tagblatt» zur «Aargauer Zeitung» fusioniert. Es war wie eine Ankündigung für die massiven Konzentrationsbewegungen der nächsten Jahre. Anfang 2000er begannen die Werbeeinnahmen ins Internet abzuwandern. Das Aufkommen von Gratiszeitungen beschleunigte die Verluste im Werbegeschäft, die später ins Astronomische wuchsen. Während im Jahr 1995 alle Medien zusammen, nur die Kaufzeitungen gezählt, rund 1,7 Milliarden Franken Werbeeinnahmen verzeichneten, waren es im Jahr 2023 noch gut 320 Millionen.

Anfang 2002 wechselte Häfliger für die «NZZ am Sonntag» ins Bundeshaus. In Bern, wo die Politikerinnen und Politiker sitzen, ist die Medienvielfalt bis heute intakt. Das politische Geschehen wird unterschiedlich bewertet, Politikerinnen und Beamte können wählen, welchem Medium sie welche Story zustecken. Im Lokaljournalismus sieht es anders aus. In vielen Kantonen gibt es keine unterschiedlichen Perspektiven mehr. Dabei sei Konkurrenz die beste Qualitätssicherung, sagt Häfliger. So war das jedenfalls seinerzeit im Aargau. «Sie zwingt dich, die Story anzupacken, auch wenn sie mühsam ist, die Leute hässig werden und du Probleme kriegst. Wenn du es nicht tust, steht sie morgen bei den anderen.» Heute sei die Lokalberichterstattung oft viel zu affirmativ, meint er und sieht plötzlich etwas verloren aus zwischen seinen Aktenschränken und den Dachschrägen. Er sei schockiert über die Ignoranz im Parlament. Die Politikerinnen und Politiker liessen sich in vier Lager unterteilen. «Höchstens ein Viertel versteht, dass unser Mediensystem auf einen Kipppunkt zusteuert, ein weiterer Viertel sieht nicht, wie akut das Problem ist, ein Viertel interessiert sich nicht, und der letzte Viertel findet es gut, wenn die Medien schwächer werden.»

2015 steuerte Häfliger auf den Höhepunkt seiner Karriere zu. Die «Kasachstan-Affäre» wurde zu seinem Meisterstück. Die Geschichte zeigte auf, wie fremde Regierungen über Lobbyisten und Parlamentarierinnen direkten Einfluss auf die Schweizer Politik ausüben. Im gleichen Jahr wurde er zum Journalisten des Jahres gekürt. 2016 wechselte er zum «Tages-Anzeiger» bei Tamedia. Häfligers Artikel erschienen damals auch im Berner «Bund». Nur acht Jahre später standen seine Texte im «Tages-Anzeiger», «Bund», «Landboten», «Zürcher Unterländer», «Zürcher Oberländer», in der «Berner Zeitung», «Basler Zeitung», «Zürichsee-Zeitung», in «24heures» und «Tribune de Genève».

Tamedia wurde ab den nuller Jahren durch Zukäufe von Regionalzeitungen zum mächtigsten privaten Verlag der Schweiz. Die Zeitungen wurden nach und nach zusammengelegt, und die überregionalen News kamen irgendwann alle aus der gleichen Redaktion. Man gab die journalistischen Inhalte gratis ins Netz und fuhr dann wieder Bezahlwände hoch. Gleichzeitig begann Tamedia erfolgreich, die wegfallenden Einnahmen aus Werbung und Inseraten durch Beteiligungen an Online-Marktplätzen wie Ricardo oder Homegate zu kompensieren. Der Journalismus blieb jedoch ein eigenes Geschäftsfeld. Und das rentierte nicht mehr. Gemäss dem Online-Magazin «Republik» kam es alleine bei Tamedia zu zwölf Sparrunden innerhalb von zwanzig Jahren. Auch die anderen Medienhäuser wie die NZZ, CH Media oder die SRG mussten sparen, wenn auch nicht im gleichen Ausmass. Es gab immer mehr Journalisten, die ihre Stelle verloren – oder das Vertrauen in ihre Verlage.

Constantin Seibt verliess den «Tages-Anzeiger» im gleichen Jahr, als Häfliger kam. Auch sein Abgang löste mediale Zuckungen aus. Seibt war der Starschreiber des Blattes, Punk im Herzen, der einzige Reporter im Haus, der noch im Büro rauchen durfte. Doch irgendwann, sagt Seibt, habe ihn das Gefühl beschlichen, er sei wie der Klavierspieler auf der «Titanic», links und rechts von ihm gingen Leute über Bord. Seibt scheint sein ganzes Leben als Plot zu begreifen. Natürlich versuchte er die Geschichte des Unternehmens, bei dem er arbeitete, zu verstehen. Irgendwann glaubte er, den roten Faden gefunden zu haben: Es verabschiedet sich vom Kerngeschäft, vom Journalismus.

«That’s bad news for you boy», dachte er und setzte sich erst mit zwei Leuten und dann mit vielen zusammen. Zwei Jahre nach seiner Kündigung startete er das Online-Magazin «Republik», und die Geschichte, die Seibt dazu erzählte, ging ungefähr so: «Journalismus war jahrelang ein Monopolbetrieb. Es gab enorm viel Geld, Prestige und Macht. Man dachte, man lebe von der Genialität der Leitartikel, dabei lebte man von der Rückseite, vom Inserat. Man dachte, man habe das Vertrauen der Leute, aber eigentlich hatte man nur das Monopol. Die Zeitungen haben vergessen, in die Leserbindung zu investieren, in die Glaubwürdigkeit, ins Vertrauen», sagt er. Die «Republik» überlebt bis heute, wenn auch unter Not. Allerdings bedient sie im Vergleich zu Traditionstiteln eine kleine Nische.

Wettlauf gegen die Zeit

«Der Mainstream geht verloren», sagt Seibt, der seine ganze Jugend lang gegen den Mainstream rebellierte. Er habe sich geirrt, sagt er, der Mainstream sei das, was alle zusammenhalte. Selbst Contrarians, die immer gegenteiliger Meinung seien, brauchten ihn. Aber er verflüchtigt sich mit dieser Krise. Jede Bubble hat ihre eigenen Experten, Heldinnen und News. «Selbsttragenden Journalismus gibt es heute nur in Nischen.» Nischen, die neue Onlinemedien wie «Bajour», «Hauptstadt», «Tsüri» bedienen, mit jungen Leuten und tiefen Pensen. Oder «Inside Paradeplatz», ein Finanzblog, mit dem der Wirtschaftsjournalist Lukas Hässig immerhin sich und seine sechsköpfige Familie durchbringt. Er publiziert ungefähr zwei Artikel pro Tag, fällt immer wieder mit News-Geschichten auf, segelt im Ton hart am Wind, um Aufmerksamkeit zu erregen. Er hat an die zwanzig, dreissig Gerichtsverfahren hinter sich, aber er ist noch immer da. Doch sind solche Modelle die Zukunft?

Häfliger war quasi die Verkörperung des Mainstreams. Er suchte nach der Wahrheit, nicht der steilen These. Niemand wusste, wo er politisch stand. Häfliger war keine meinungsstarke Marke, wie man es heute sein soll. Er war ein höflicher Typ, der etwas sagte, wenn es sein musste. So wie damals, als er als Oberleutnant im Militär mitbekam, wie ein Kollege gemobbt wurde, da schrieb er dem Oberst einen Brief. So etwas öffentlich auszutragen, lag ihm fern. Aktivismus ist unter Medienschaffenden verpönt. Häfliger macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten – eigentlich.

Der «Tages-Anzeiger» steckt weiter in der Transformation. Man muss die aussterbenden Printzeitungen rausbringen und gleichzeitig in die Entwicklung von gutem Online-Journalismus investieren. Gefragt sind Projektdenken, agile Teams und Anpassungsfähigkeit. Es sind vielleicht nicht unbedingt Eigenschaften, die hartgesottene Journalistinnen und Journalisten auszeichnen. Querfinanzierung kommt für das Medienhaus nicht infrage. Man will sich keine Zeitung halten wie ein Museum. Die Unabhängigkeit des Journalismus bedinge eine wirtschaftliche Unabhängigkeit, heisst es. Man verabschiede sich nicht vom Journalismus, im Gegenteil, man investiere in Qualität, attraktive Arbeitsbedingungen, Weiterbildung, die Jungen. Das Recherche-Desk, wie Tamedia es führt, ist einzigartig in der Schweiz, als intellektueller Leuchtturm gilt das «Magazin», eine Samstagsbeilage.

Realität ist aber auch, dass die Gespräche zwischen Redaktionen und Verlagen schwierig geworden sind. Die Fronten sind verhärtet, es ist viel Geschirr zerschlagen. Man redet via Medienmitteilungen miteinander, der Verleger Pietro Supino gibt nur ausgewählte Interviews, und wenn, dann lieber «off the record». Zitieren lässt er sich so: «Das digitale Angebot ist unendlich gross und wächst weiter – sowohl das inhaltliche Angebot als auch die Werbemöglichkeiten. Es gibt mehr Gutes denn je. Und es gibt noch viel mehr Schlechtes denn je. Darum sind unterschiedliche Interpretationen möglich, und es kommt dabei auch darauf an, was man für sich selber daraus ableiten will.» Die traditionellen Medienhäuser haben eine schwierige Rolle in dieser Krise.

Markus Häfliger liefert inzwischen Primeure, wird Vater von Zwillingstöchtern, die Pandemie trifft die Verlage hart. Im Jahr 2022 lehnt das Schweizer Stimmvolk das Medienpaket ab. Irgendwann um diese Zeit stellt Häfliger bei sich Ermüdungserscheinungen fest. Dabei ist er erst 53 Jahre alt. Sein Umfeld hat sich verändert. Der Journalismus ist besser geworden. Aber früher brachte der «Tages-Anzeiger» mit einem grösseren Team einmal pro Tag eine Printzeitung heraus, heute berichtet man mit kleineren Teams fast rund um die Uhr: vom Newsticker über den ersten schnellen Kommentar, zum Bericht, zu den ersten Reaktionen, zur Hintergrundgeschichte. Das Tempo stieg jedes Jahr.

Die Woche nach dem Zusammenbruch der Credit Suisse im Frühling 2023 wird eine der stressigsten in Häfligers Berufsleben. Eine Rekonstruktion der Dinge wird erwartet, der Druck ist enorm, man tritt gegen Reuters an, Bloomberg, «Financial Times», die NZZ. Häfliger will die Wahrheit finden, doch noch 48 Stunden vor der Veröffentlichung hat er – nichts. Am Donnerstagabend findet er die erlösende Schlüsselquelle, Kollegen steuern weitere Informationen bei, am Samstag geht der Artikel raus. In Häfligers Kopf reift eine Einsicht: «Ich schaffe das nicht noch zehn Jahre.»

Ist Häfliger zu schwach, oder ist Journalismus zu einem Beruf für junge Leute geworden? Wird seine Generation im Dampfkessel der Digitalisierung verheizt, oder gibt es in der digitalen Zukunft keinen Platz mehr für sie? Gleichzeitig verspürt Häfliger einfach Lust auf etwas Neues, auf eine berufliche Neuerfindung. Er hat die Wahlen von achtzehn neuen Bundesratsmitgliedern journalistisch begleitet, irgendwann ist auch mal gut.

«Da wusste ich, du gehst»

Im Herbst 2023 verkündet Tamedia einen weiteren Stellenabbau; 48 Stellen. Es trifft Häfligers Bürokollegen. Die Entlassungen kommen, nachdem in den drei Jahren davor bereits ein Sparpaket von 70 Millionen durchgepaukt worden ist. Das war zu viel. Mehr als dreihundert Personen treffen sich vor dem Gebäude der TX Group, eine so grosse Versammlung gab es Jahre nicht. Die Gewerkschaften sind da, die Romands, Tamedia-Journalistinnen und -Journalisten, aber auch viele aus anderen Medienhäusern sind gekommen. Häfliger steht ganz vorne auf einer Bank: «Liebe Schweiz, dein Journalismus stirbt scheibchenweise», ruft er in ein Mikrofon. So hat man ihn noch nie gesehen. «Solche Neuigkeiten bedeuten jedes Mal monatelange Unsicherheit, monatelange Depression, die ein ganzes Büro befällt.» Das Fernsehen ist da, es gibt einen Beitrag in der «Tagesschau». Eine Kollegin wird später zu Häfliger sagen: «Als ich dich da vorne gesehen habe, wusste ich, du gehst.»

In Bern kippt die Stadt direkt ins Land, es gibt kaum Agglo. In Rosshäusern spritzt Fett aus einem grossen Rindsfilet, das Bier ist eisgekühlt. Im Garten stehen Tische verteilt, hinter dem umgebauten Bauernhaus erstrecken sich saftige Hügel. Wenn Journalisten heute feiern, ist es meistens ein Abschiedsfest. Es ist ein Jahr später, Ende August 2024, Häfliger hat seinen letzten Arbeitstag hinter sich. Wenige Tage davor hat Tamedia die grösste Massenentlassung ihrer Geschichte kommuniziert. Zwei Druckereien werden stillgelegt. Als die Zahl 290 die Runde gemacht habe, 200 eingesparte Stellen in den Druckereien, 90 in den Redaktionen, sei Panik ausgebrochen, erzählt einer. Nach der Kommunikation wurde per Chat zu einer Spontandemo aufgerufen. Es kamen vielleicht zehn Nasen. Jetzt herrscht Resignation. Man scherzt über eine Zweitkarriere als Fährmann oder «The Voice of Germany»-Teilnehmerin, einige freuen sich auf die Frühpensionierung.

Irgendwann werden alle ins Gartenhäuschen gerufen. Seine Kolleginnen und Kollegen haben für Häfliger einen Podcast gemacht, ein Abschiedsgeschenk, er dauert mehr als eine Stunde. Sie diskutieren darauf seinen Abgang, als wäre er das Politereignis des Jahres. Politiker der höchsten Ränge haben eine Tonspur für ihn beigesteuert. «Wir haben einen extrem wichtigen Job gemacht, und ihr macht ihn weiter», sagt Häfliger bei einer spontanen Rede. Er habe sich ein bisschen als Fahnenflüchtiger gefühlt die letzten Monate. «Aber ich glaube, es ist der richtige Entscheid für mich im Moment.» Er wird den Herbst nutzen, um Dinge zu tun, die in einem Journalistenleben liegenbleiben, das Baumhaus für die Mädchen fertig bauen, Zeit mit den alten Eltern verbringen, im Alpstein wandern.

2014 gab es laut Bundesamt für Statistik 12 000 Journalistinnen und Journalisten, alle vier Landessprachen, Radio, Fernsehen, Zeitungen, Social Media und Lokalpresse eingerechnet. Heute gibt es noch rund 9000. «Und das ist noch lange nicht das Ende dieser Entwicklung.» Das sagt der SRF-Journalist Salvador Atasoy. Er wurde dieses Jahr zum Radiojournalisten des Jahres gewählt, zudem präsidiert er die Gewerkschaft SSM, das Schweizer Syndikat der Medienschaffenden. Er sei einer der letzten Medienbeobachter des Landes, hiess es einmal. Atasoy glaubt, dass die brutalsten Jahre noch kommen. «Wir werden in den nächsten vier bis fünf Jahren noch 40 bis 50 Prozent der Leute verlieren, die heute im Journalismus arbeiten», sagt er. Sinken die Gebühren, wie es Bundesrat Albert Rösti plant, wären es nach Tamedia-Schätzungen alleine bei der SRG etwa 1000. «Ich glaube, es wird wieder einen Markt geben für Journalismus, einfach nicht jetzt», sagt Atasoy. Momentan wird der Journalismus zunehmend prekarisiert, zum Beruf für idealistische Leute.

«Das ist eine zu pessimistische Weltsicht», sagt Andrea Masüger, Präsident des Verlegerverbandes VSM. Man könne das Personal nicht grenzenlos herunterfahren. Deshalb setzen die Verleger sich politisch für indirekte Medienförderung und Urheberrecht ein. Man will Google dazu bringen, für News zu bezahlen. Zusätzlich verschärft wird die Situation durch KI, die Inhalte der Bezahlmedien absaugt und gratis weiterverbreitet. «Man muss von moderner Piraterie sprechen», sagt Masüger. Es sei eine Zäsur.

Wie viele Journalistinnen und Journalisten braucht es, damit die Demokratie funktioniert?

Kurz nachdem Häfliger seinen Abschied gefeiert hat, beginnt Anna Nüesch ihren Job bei Tamedia. Die Firma hat den Gewerkschaften einen Entlassungsstopp für zwei Jahre zugesagt. Nüesch ist 25 Jahre alt, hochmotiviert, Co-Präsidentin des Netzwerks der jungen Journalistinnen und Journalisten Schweiz. Sie hat fünf Jahre bei der «Südostschweiz» gearbeitet, brennt für den Lokaljournalismus. Jetzt will sie raus aus Chur, ihren Rucksack füllen mit all den Fähigkeiten, die sie in der digitalen Zukunft brauchen wird. Sie arbeitet in einem Team, das die Suchmaschinen, vor allem Google, eng beobachtet, die Auffindbarkeit der Artikel optimiert und aufgrund von Online-Analysen Themen entwickelt. So ist der Berufseinstieg heute. Nüesch sieht Gestaltungsraum. «Ich sehe das als grosse Chance.» Natürlich sei die Verunsicherung bei den Jungen gross, immer mehr arbeiteten nur noch Teilzeit im Journalismus. Aber deswegen einen Traum aufgeben? Niemals.

Mitte Januar sitzt Häfliger in einem Café in Bern. Seine Sätze sind vom «sie» zum «wir» gewechselt, wenn er von der Heilsarmee spricht. Er hat seine Recherchetour durch die Organisation abgeschlossen und ein Strategiekonzept ausgearbeitet. Die Heilsarmee begeistert ihn. Sie ist ein politischer Player, die Themen divers. Der Wechsel tue ihm mental gut. Er will nun das öffentliche Profil der Heilsarmee schärfen. Die meisten kennten nur das Singen auf der Strasse, dabei sei es eine weltumspannende Hilfsorganisation mit 2000 Mitarbeitenden allein in der Schweiz. Sie betreibt Flüchtlingsunterkünfte, Altersheime, Gassenküchen, Wohnungsprogramme. Häfliger ist jetzt Lobbyist der Randständigen, der Machtlosen, der Prostituierten und der Drogensüchtigen. Er will zurück ins Bundeshaus. Die Politiker und Journalistinnen beeinflussen. Jetzt fehlt ihm nur noch der Badge für den Zugang.   

Rafaela Roth hat während der ganzen Recherche nicht aufgehört, an den Journalismus zu glauben.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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