«Woher soll ich das alles wissen?»
Teil 9: Ein Land verliert seinen Schreiber
Teil 9: Ein Land verliert seinen Schreiber
Wir haben Peter Bichsel einen Brief geschrieben, um ihn zu fragen, ob er uns ein Interview über die Liebe gebe. Erst sagt er zu, später ziert er sich. Also beschliessen wir, hinzufahren und zu klingeln, irgendwo in Solothurn, wo die Stadt ausfranst und die Agglomeration sich in die Landschaft frisst. Wir haben Kuchen dabei und Hunderte Fragen.
«Kommt rein», begrüsst er uns freundlich, ein Sommertag im Jahr 2024. Er trippelt durch die Küche an seinen Schreibtisch mit Blick auf den Garten. Staubpartikel tanzen im Gegenlicht. Stapel von Büchern und Zeitungen liegen vor ihm, Zigaretten und eine Flasche J&B-Scotch.
Herr Bichsel, Jahr für Jahr kommen Journalistinnen und Journalisten in Ihr Häuschen, um Sie zu befragen. Was suchen wir alle bei Ihnen?
Peter Bichsel: Weisheit?
So ist es.
Da sind Sie am falschen Ort.
Wir suchen, was Kinder suchen, wenn sie ihren Eltern beim Geschichtenerzählen zuhören: jemanden, der uns die Welt erklärt.
Nein, Kindern geht es um die Stimme der Mutter. Wenn sie erzählt, dann hat das Kind sie ganz für sich. Das ist es, was das Kind will. Deshalb will es am Montag das Schneewittchen und am Dienstag das Schneewittchen, und wehe, ein Detail ist anders. Dann hat das Kind Angst, aus der Erzählung zu fallen. Das ist die Funktion des Erzählens.
Erzählen Sie uns über die Liebe.
Ach, die blöde Liebe. Ich finde «Liebe» eines der grauenhaftesten Wörter überhaupt. Mutterliebe, Vaterliebe. Welchen Kuchen mögen Sie am liebsten? Wenn Liebe zu Briefmarken und Liebe zu einem Menschen dasselbe sind, dann hört es für mich auf. Es ist ein missbrauchtes Wort. Wenn jemand von Liebe spricht, beginnt er schon zu lügen. «Liebe» ist eines der Wörter, bei denen ich skeptisch werde, ich fürchte mich generell vor Wörtern, die man nicht in die Mehrzahl setzen kann.
Können Sie das erklären?
Was man nicht in die Mehrzahl setzen kann, ist nicht greifbar. Mehr fällt mir dazu auch nicht ein.
Was bedeutet Liebe, Herr Bichsel?
Liebe ist: Ich will nicht, dass du stirbst.
Wir führen seit Monaten Gespräche über die Liebe und haben diese Frage allen unseren Interviewgästen gestellt. Ihre Antwort ist bis jetzt die Schönste.
Wissen Sie, ich bin für die Mundartversion und ziehe «gernhaben» vor, weil es nicht so verbraucht ist. Gernhaben ist etwas viel Stärkeres als die Liebe. Gernhaben ist freier von der Lüge. «Ich liebe dich», was soll das schon heissen?
Ein in Worte verpacktes Gefühl.
Ich bezweifle, dass Liebe ein Gefühl ist. Ich befürchte, es ist eine Konvention. Und die Vaterlandsliebe halte ich für ein Verbrechen. Einen Schwindel. Man macht aus dem Land, in dem man lebt, eine religiöse Angelegenheit.
Sie hadern mit dem Patriotismus?
Ich bin gerne Schweizer, ich lebe gerne hier, ich bin politisch interessiert. Aber der Staat interessiert mich mehr als das Vaterland.
Andere Wörter, die sich nicht in Mehrzahl setzen lassen, sind: Gegenwart, Durst, Hass. Fürchten Sie die auch?
Den Hass schon. Durst sowieso. Gegenwart? Eventuell auch. Ohne die Zukunft ist die Gegenwart nichts.
Fühlen Sie sich so? Ist das die Essenz des hohen Alters?
Weiss ich nicht. Es ist mir spontan eingefallen.
Haben Sie Angst vor dem Sterben?
Ich habe mich noch nie mit dem Sterben befasst, vielleicht als Kind, als der Grossvater starb, aber nicht mit meinem, wofür ich mich ein bisschen schäme. Ich habe unter vielen Toden von nahestehenden Leuten gelitten. Aber vor dem eigenen Tod? Nein, da fürchte ich mich nicht.
Der deutsche Literaturkritiker Fritz J. Raddatz sagte im hohen Alter, sein Adressbüchlein sei voller Toter. Kennen Sie das?
Sind eben alle weg. Und man hat keine Lust, ihre Nummer auf dem Handy zu löschen. Jörg Steiner ist noch drin und Ruth Schweikert auch. Wirklich nahestehende Freunde, die nehmen etwas mit, wenn sie sterben, nämlich eine Sprache. Wie die zwei letzten Eskimos, die Samisch reden: Wenn der eine stirbt, ist der andere mit seinem Samisch allein. Es gibt Dinge, die ich noch erzählen könnte, aber nur der Jörg Steiner würde es verstehen. Nur er fände es lustig.
Das klingt traurig.
Es gibt Geschichten, die nur funktionieren, wenn der Zuhörer die Person kennt, von der man erzählt. Der, der auf Rigi Kulm in die Hose gemacht hat, der Fritz Soundso. Manchmal bin ich in der Beiz am Stammtisch, da ist der zweitälteste zehn Jahre jünger als ich. Da wüsste ich viele gute Geschichten, die zur Unterhaltung passen würden, aber ich kann sie nicht erzählen, weil keiner mehr da ist, der den kennt. Ich habe immer gerne erzählt. Ich bin ein mündlicher Mensch.
Gehen Sie häufig in die Beiz?
Jetzt kommt gleich ein Bekannter, um mich abzuholen.
Dürfen wir mitkommen?
Nein.
Dann fragen wir weiter. Ist die Liebe auch weg, wenn jemand stirbt?
Die Liebe wohl nicht, nein. Ich liebe meine Frau immer noch. Ich vermisse sie nicht, sie könnte ja im Nebenzimmer sein oder im oberen Stock. Aber sobald ich das Haus verlasse, vermisse ich sie.
Was vermissen Sie, wenn Sie sie vermissen?
Ein Zuhause. Ich denke: «Das muss ich Therese erzählen», und dann ist sie nicht da.
Reden Sie mit ihr?
Nein, auch sie hat die Sprache mitgenommen. Es ist neunzehn Jahre her, dass sie gestorben ist. Ich habe zu meiner Überraschung lange nicht von ihr geträumt. Jetzt träume ich wieder von ihr. Und es fühlt sich ganz selbstverständlich an, dass sie wieder da ist.
Träumt man im Alter, man sei jung?
Ich bin nicht jünger in meinen Träumen. Aber ich bin seltsamerweise gut zu Fuss.
Sollen wir vielleicht die Linzertorte anschneiden?
Für mich im Moment nicht. Ich esse sie später. Möchten Sie etwas trinken?
Auf Ihrem Schreibtisch stehen jede Menge bunte Medikamente. Und eine Flasche Whisky.
Rotwein?
Sie müssen entschuldigen, dass wir einfach hereingeplatzt sind. Wie lange leben Sie schon in diesem Häuschen?
(Geht in die Küche, holt eine Flasche und drei Gläser.) Seit 1968.
Lesen Sie Ihre eigenen Bücher noch?
Ganz selten, wenn ich in eines hineinlaufe.
Was denken Sie dann?
Ich staune, was der konnte.
Was konnte er?
Schreiben! Jetzt schreibe ich nicht mehr, keine Zeile. Nicht einmal Briefe. Es ist mir abhandengekommen.
War Schreiben etwas, das Sie liebten?
Ich bin kein leidenschaftlicher Mensch. Ich habe halt geschrieben, weil ich ein schlechter Fussballer war.
Wären Sie gern leidenschaftlicher gewesen?
Nein. Leidenschaft heisst, fokussiert zu sein auf Details im Leben, aber mir gefällt das Leben, wie es ist. Ich brauche dazu keine Leidenschaft. Der leidenschaftliche Sportler ist mir ein Rätsel. Deswegen schaue ich auch viel Sport. Ich schaue in die Gesichter der Sieger, die da oben auf dem Treppchen stehen, und sehe, wie sie sich zwar freuen und winken, sich aber plötzlich fragen: War das jetzt alles? Sportler sind die Opfer ihrer Leidenschaft.
Die Opfer? Es gibt doch keine grösseren Emotionen als beim Sport.
Ja und dann? Dann sitzt man mit 90 in der Kneipe und sagt einem Jungen: «Ich war dreimal Schweizer Meister.» Und der Junge fragt: «Wie heissen Sie denn?» Man sagt: «Alfons Meier», und der Junge: «Nie gehört!» Das ist das Ende des Sportlers. (Schenkt den Wein in die Gläser.)
Und was ist das Ende des Schriftstellers? Dass ihn niemand mehr liest?
Dass er stirbt.
Aber so enden wir doch alle!
Ich bin ja nicht dagegen, dass es uns allen gleich geht.
Wer sich mit dem Tod nicht beschäftige, interessiere sich nicht für das Leben, heisst es doch.
Vielleicht hat Schreiben sehr viel mehr mit dem Tod zu tun, als wir meinen. Eine gute Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. Nur schon die Form ist eine Nachahmung des Lebens. Und Schreiben hat sehr viel mit der Endlichkeit des Lebens zu tun. Ohne Endlichkeit hätten die Menschen keine Zeitrechnung, keinen Anfang und kein Ende. Und dieses Ende ist uns allen sicher. Oder wie das der Philosoph René Descartes sehr schön gesagt hat: «Alle Menschen müssen sterben. Vielleicht auch ich.» Ein grossartiger Satz. Ohne das Wissen von unserem eigenen Tod würde uns sehr viel fehlen.
Nämlich?
Die Reflexion. Ohne Reflexion keine Sprache. Ich bin gerne ein reflektierender Mensch. Ich weiss, dass es keinen Gott gibt, aber ich liebe ihn.
Das Wort «Liebe» mögen Sie nicht, aber Sie lieben Gott. Wie geht das?
Gott ist eine grossartige menschliche Erfindung. Und eigenartigerweise haben ihn alle Völker dieser Welt für sich selbst erfunden. Er ist die Wahrheit, wie der Pfarrer sagt, ja, er ist die Wahrheit. Aber eine Erfindung kann auch die Wahrheit sein. Ich liebe Gott, aber er liebt mich nicht, weil es ihn nicht gibt. Liebe gibt es genauso wenig, wie es Gott gibt. Aber es ist mir völlig wurst, ich liebe ihn trotzdem. Und ich rede mit ihm.
Wie klingt das?
Wenn ich was Gutes tue, und niemand weiss davon, dann brauche ich jemanden, der mir auf die Schulter klopft und sagt: «Hast du gut gemacht, alter Knabe.» Das ist Gott.
Wann hat er Ihnen zum letzten Mal auf die Schulter geklopft?
Diese ständige Nachfragerei, gopfridli. Ich weiss es nicht. Ich habe doch gesagt, es sei selten, woher soll ich das alles wissen.
Diese Nachfragerei, das ist unser Beruf.
Komischer Beruf.
Was kann man von alten Menschen lernen?
Nichts. Lernen tut man von den Jungen.
Ist die Erfahrung nichts wert?
Dass es so etwas wie Lebenserfahrung gibt, ist eine Behauptung alter Trottel. Erfahrungen macht man als 17-Jähriger und nicht mit 90. Lebenserfahrung ist ein Quatsch. Nein, nein, nein. Bitte aufhören.
Wir stellen uns vor, dass man im Alter weiser wird, dass man Dinge, die einem passierten, plötzlich versteht.
Nein.
Dass man Antworten hat auf Fragen wie: Was ist wichtig, und was braucht es für ein gutes Leben?
Nein, nein. Alles Quatsch.
Herr Bichsel, wo gehen Sie hin?
(Bichsel steht auf, geht hinüber zum Tisch und holt ein kleines Spielkarussell.)
Wir haben noch Fragen.
(Er macht das Karussell an, es beginnt zu drehen, und leise scheppert Musik.)
Ich bin auf dem Karussell zum ersten Mal in meinem Leben allein gereist. Die Eltern standen da, und ich war eine ganze Runde allein, dann kamen die Eltern wieder und waren wieder weg. Runde für Runde. Das ist Erfahrung. Zeig mir auf der ganzen Welt einen alten Mann, der eine solche Erfahrung im Alter noch macht. Nein, Erfahrungen, die macht man als Jüngling. Man muss von den Erfahrungen der jungen Menschen sprechen, nicht der Alten.
(Bichsel beginnt zu zitieren und haucht Sätze vor sich hin.)
«Es war alles eitel und Haschen nach Wind und kein Gewinn unter der Sonne.»
Was murmeln Sie da?
Eine Stelle aus der Bibel. König Salomos Predigt. Soll ich sie vorlesen?
(Holt die Bibel und liest minutenlang vor.)
Ist die Bibel das wichtigste Buch?
Was ist das für eine Frage?
In der Vorbereitung klang sie gut.
Das kommt auf den Zeitpunkt an. Wenn Sie auf der Toilette sitzen, ist das Toilettenpapier das wichtigste Papier. Und das Telefonbuch ist das wichtigste, wenn man eine Nummer sucht.
Und wann ist die Bibel am wichtigsten, am Ende des Lebens?
Nein. Es ist aber schon erstaunlich, ein so altes Buch und ein so guter Dichter, der es geschrieben hat.
Haben Sie als Kind verstanden, was in der Bibel steht?
Eben nicht, das war ja das Grossartige, dass wir nichts verstanden haben. Die Idee, alles verstehen zu müssen, ist ein Irrsinn, all diese Bemühungen um Leseförderung, diese vereinfachten Bücher mit den blöden Zeichnungen: So soll man Lesen lernen? Lesen lernt man, indem man Dinge liest, die man nicht versteht. Wenn man die Pornografie des Vaters erwischt und kein Wort versteht, aber merkt, da ist etwas. Das ist das Geheimnis des Lesens.
Ihre Bücher lesen sich gut, wenn man traurig ist. Ihre Geschichten trösten.
Ich versuchte nicht, die Leute zu trösten, wenn ich schrieb, sondern mich selbst. Man nimmt die Welt und erfindet sie neu.
Wenn man so bei Ihnen sitzt, bekommt man Lust zu rauchen.
Was?
Zu rauchen.
Das Karussell ist eine meiner frühsten Kindheitserinnerungen. Meine Urenkel, wenn die kommen, dann zeige ich es ihnen. Wenn ich die sehe, so klein, wie sie sind, wie sie lachen, wenn der Vater einen Purzelbaum macht – woher wissen sie, dass das eine Ausnahme ist und keine normale Bewegung eines Erwachsenen? Säuglinge lernen eine Sprache in wenigen Monaten. Da wird das Leben zum Wunder, und man steht als alter Mann davor und staunt.
Welches war die beste Phase Ihres Lebens?
Zwischen fünfzig und sechzig. Ich habe mir gedacht: «Jetzt kann mir keiner mehr auf die Kappe scheissen.» Das ist ein gutes Gefühl. Immerhin an einer Geschichte bin ich unschuldig: Ich kann nichts dafür, dass ich so alt geworden bin. Ich habe nichts dafür unternommen.
Gibt es Dinge, die Sie bedauern, wenn Sie zurückschauen?
Da müsste ich rumgraben. Entweder bereue ich alles oder nichts. Also bereue ich lieber nichts als alles. Ich habe mich immer davor gefürchtet, mit meinem Leben buchhalterisch umzugehen. Ich habe es laufenlassen. Ich habe nicht sehr viel in mein Leben eingegriffen.
War das gut?
Ich finde, ja.
War Ihnen wohl in Ihrem Körper?
Ich habe mir diese Frage nie gestellt. Ich hatte ja nur diesen.
Ist es nicht zentral, wie man in seinem Körper wohnt?
Lassen Sie mich überlegen. (Langes Schweigen.) Meine Antwort: Tendenziell nein. Mir war eher unwohl.
Warum?
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte.
Na endlich!
Meine nasale Aussprache, dafür wurde ich immer gehänselt. Ich hatte es schwer und wurde nachgeahmt. Meine Mutter ging mit mir zum Nasenarzt, der hat sich das angeschaut und gesagt: «Die Nasengänge sind zu schmal.» Das sei eine leichte Sache, man könne sie erweitern. Keine schwierige Operation. Und ich habe mich darauf gefreut, zu reden wie die anderen, fertig mit Ausgelachtwerden. Doch kurz bevor ich operiert werden sollte, sagte ich meiner Mutter, ich hätte es mir anders überlegt. Ich war 11 oder 12, bin zurück zum Arzt und sagte, ich möchte das nicht, es sei meine Sprache und ich möchte sie behalten. Da antwortete er: «Bist ein gescheiter Bub.» Von da an habe ich sehr gut mit meiner nasalen Aussprache gelebt.
Ein Mann mit Hut betritt vom Garten aus das Häuschen.
Der Freund: Du hast Besuch?
Bichsel: Nein, habe ich nicht. Das sind Plagegeister, die einfach so in mein Haus gekommen sind und mich ausfragen.
Wir wollen wissen, was man im Alter über das Leben lernt.
Der Freund: Da komme ich später wieder.
Bichsel: Nein, du bleibst, die anderen können ja gehen.
Wir haben Herrn Bichsel über die Liebe ausgefragt.
Der Freund: Davon versteht er nichts.
Bichsel: Ich habe ihnen verboten, mit uns ins «Vini» zu gehen. Obwohl die beiden mit der Zeit netter wurden. So, die Beiz ruft, gehen wir?
Ein paar Monate vergehen. Es ist kälter geworden. Laub liegt in Bichsels Garten, doch im Haus sieht alles aus, als wäre die Zeit stehengeblieben. Wir hätten noch mehr Fragen, haben wir am Telefon gesagt, als wir unseren Besuch ankündigten. Bichsel lächelt und holt für unsere Blumen eine Vase.
Herr Bichsel, wir sassen Ihnen schon im Sommer an diesem Tisch gegenüber. Was haben Sie all die Monate gemacht?
Ich sitze hier. Ich denke vor mich hin. Ich lese. Ich höre Radio.
Was kochen Sie?
Ich erhalte das Essen von einem Mahlzeitendienst. Aber es ist nicht sehr gut.
Vermissen Sie das gute Essen?
Ich vermisse das Kochen. Ich habe sehr gerne gekocht, beinahe professionell, aber das geht jetzt nicht mehr.
Was mögen Sie zum Frühstück?
Das sind doch keine Fragen, bitte! Ich möchte nicht übers Frühstücken reden.
Empfinden Sie die Welt als bedrohlich, wenn Sie heute Nachrichten hören, oder war sie immer schon so?
Wir erleben im Augenblick das endgültige Ende der Französischen oder Amerikanischen Revolution. Es ist das Ende des Liberalismus, der aus diesen Revolutionsbewegungen, die auch nicht nur gut waren, hervorgegangen ist. Das Ende des Liberalismus würde auch heissen: das Ende der Demokratie. Das erleben wir weltweit, und ich fürchte, in Spuren, auch bei uns.
Woran machen Sie das fest?
Ich glaube, es ist ein Irrtum, zu glauben, dass eine Mehrheit der Menschen sich nach nichts anderem sehnt als Demokratie. Die Menschen wünschen sich Prosperität und einen Erlöser, nicht die Demokratie.
War das früher anders?
Ich weiss nicht, was früher war. Auch wenn ich früher gelebt habe. Nein, es gab nie eine Zeit, wo ein Gemeindepräsident seine Rede zum 1. August mit dem Satz begann: «In diesen guten Zeiten . . .» Es waren immer schlechte Zeiten.
Warum lernen wir nie dazu?
Weil wir den Faschismus der Nazis nie bewältigt haben, auch in der Schweiz nicht. Es kommt zu vieles immer unter den Teppich.
Warum gibt es kaum mehr Schweizer Autoren und Autorinnen, die sich in die Politik einmischen?
Eine alte Frage. Im Grunde genommen tun es alle, aber es fällt niemandem auf. Wenn alles schiefgeht, sollen es am Schluss die Autorinnen und Autoren richten, die ungelesenen. Nein.
Autoren Ihrer Zeit haben sich mit politischen Essays in die Debatte eingemischt.
Blödsinn. Ich habe mit Sprache rumgespielt, und da rutschte ab und zu etwas Politisches rein. Die ständige Frage, wo die Schriftsteller seien, ärgert mich. «Früher hatten wir wenigstens noch den Max Frisch», heisst es dann. Das erste Mal, dass ich das hörte, war drei Tage nach seinem Tod. Schriftsteller möchte man, aber Literatur braucht man nicht. Das ist eine eigenartige Situation. Die Bücher sind da. Nur liest sie niemand.
Sie bluten am Ohr, wollen Sie ein Taschentuch? Würden Sie heute gendern beim Schreiben?
Ich weiss nicht, was das ist, gendern. Und ich weiss nicht viel Kluges darüber zu sagen. Ich habe nichts dagegen. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass ich etwas schreibe und mir dann vornehme, ein bisschen zu gendern. Was ist das überhaupt?
Man achtet auf die Geschlechterform.
Das tue ich. Aber ohne Sternchen.
Was halten Sie davon, gewisse Wörter, die man in der Vergangenheit brauchte, heute aus den Büchern und Märchen zu streichen?
Wenn man die Märchen verändern will, geht es mir zu weit. Aber die Diskussion ist wichtig. Als Ernst Leuenberger Präsident des Nationalrats wurde, war sein Vorgänger eine Vorgängerin, und in seinem Büro stand an der Tür: «Präsidentin». Da kamen Arbeiter und wollten das Schild wegnehmen. Und Ernst Leuenberger sagte: «Nein, das bleibt.» Das fand ich grossartig. Er sagte, er möchte auch einmal in der Situation sein, dass er nur mitgemeint sei.
Waren Sie nie neidisch auf Max Frischs Erfolg?
Ich war begeistert von ihm, und wir waren befreundet. Auch mit Ruth Schweikert, mit ihr habe ich noch telefoniert, als sie krank war. Gesehen habe ich sie nicht mehr.
Bereuen Sie es, dass Sie nie in die Welt hinausgegangen und nie mehr zurückgekommen sind in dieses kleine Häuschen?
«Bereuen» ist das falsche Wort. Ich hab’s halt nicht gekonnt.
Sie sind ein trauriger Mensch?
Eher.
Gibt es ein Glück, das man in der Trauer findet, eine Art Zuhause?
(Lacht und denkt nach.) Nein.
Woher kommt Ihre Traurigkeit?
Von nichts anderem als vom Leben. Die Traurigkeit ist ein wichtiges Gefühl, und sie passt zur Liebe.
Wie haben Sie Ihren eigenen Pessimismus all die Jahre ertragen?
Gute Frage. (Minutenlanges Schweigen, wie man es in anderen Gesprächen kaum noch gewohnt ist.) Unbeantwortbar! Ich hatte immer etwas gegen die Optimisten. Trauer ist jedenfalls das tiefere Gefühl als Freude.
Was haben Sie gegen Optimisten?
Sie haben die Welt zerstört. Das kommt schon gut, die Natur erholt sich, die Gletscher werden wieder wachsen, man muss nichts unternehmen: Das ist Optimismus.
Optimismus ist auch: Wir besiegen Krankheiten und fliegen zum Mars.
Ja, ja, aber warum soll ich zum Mars?
Max Frisch sagte einmal, dass Sie, wenn Sie tränken, nicht gewalttätig würden, sondern philosophisch. Brauchen Sie Alkohol, um nachzudenken?
Ich finde, nein. Aber im Übrigen brauche ich ihn schon.
Mögen Sie sich lieber, wenn Sie trinken?
Nein.
Was haben Sie für eine Beziehung zum Alkohol?
Ich bin kein Weinkenner. Ein einfacher Tischwein, das ist alles, was ich will.
Was ist eigentlich mit Ihrem Finger passiert?
Gicht. Man musste die Kuppe abnehmen.
Das Alter sei ein Massaker, sagte Ihr Schriftstellerkollege Philip Roth. Hat er recht?
Das Alter ist zu langweilig für ein Massaker.
Sie sagten letztes Mal, dass Sie von Ihrer Frau träumen würden. Träumen Sie auch von körperlicher Berührung?
Wir reden miteinander. Ich sehe sie vorbeigehen. Aber wir berühren uns nicht.
Vermissen Sie das?
Nein, ist mir aber auch noch nie aufgefallen, eigenartig, oder? Aber ich freue mich, sie anzutreffen im Traum. Das ist wohl Liebe.
Ha! Jetzt mögen Sie das Wort also doch?
Liebe hat mit Sexualität gar nichts zu tun. Verliebtheit ist ein wunderbares Gefühl, die berühmten Schmetterlinge, aber es hat mit Liebe nichts zu tun. Liebe hat etwas Fürsorgliches. Aus Verliebtheit kann durchaus Liebe entstehen, aber beim Begriff Liebe fällt mir Sex nicht ein.
Waren Sie treu in Ihren Ehejahren?
Ich war darin nicht so gut, nein.
Sind Sie aufgeflogen?
Nein.
Können Sie gut lügen?
Das mache ich doch die ganze Zeit. (Grosses Gelächter.)
Haben Sie als Kind schon viel gelogen?
Schreiben hat mit Lügen zu tun. Ein Schriftsteller, der nur die Wahrheit schreibt, ist zum Wegwerfen. Aber ist erfinden lügen? Man bettet die Sachen neu ein, möglichst nahe an der Wahrheit. Früher, wenn ich unter Leuten war, habe ich von meinen Reisen in Mexiko erzählt, obwohl ich gar nie dort gewesen war. Alle anderen waren schon da gewesen. Aber die wussten nichts zu erzählen. Da ist es doch besser, wenn jene erzählen, die es können, obwohl sie gar nicht da waren. Und meine Frau war grossartig. Sie hat mich nicht etwa unterbrochen, sondern begeistert zugehört. Nicht jede Erfindung ist eine Lüge. Aber ich habe damit aufgehört, habe ja auch nicht mehr so viele Zuhörer.
Sie haben sich. Schwindeln Sie sich an?
Ja, das ganz sicher.
Machen Sie sich eigentlich Gedanken darüber, wie man sich dereinst an Sie erinnert?
Ich habe kein Archiv. Es geht alles verloren. Es gibt einen Verein namens Büro Bichsel, was die genau machen, weiss ich nicht. Aber es sind gute Leute, sie dürfen. Ich selbst bin an meinem Nachleben nicht interessiert.
Wieso so bescheiden?
Ich bin nicht bescheiden, sondern zu eitel. Was nützt mir das, wenn ich tot bin?
Haben Sie nie über die Zeile auf Ihrem Grabstein nachgedacht?
Nein. Ich mache mir auch keine Gedanken zu meiner Beerdigung. Das ist nicht meine Beerdigung, sondern die meiner Nachkommen. Die sollen das so machen, wie sie wollen. Ich habe ihnen gesagt, sie könnten ohne weiteres schreiben: «auf Wunsch des Verstorbenen».
In Solothurn wird es Plätze mit Ihrem Namen geben, Strassen oder Bushaltestellen.
Das wäre lustig.
Was hätten Sie am liebsten?
Eine Bushaltestelle, ja, das wäre schön.
Wieder vergehen Wochen. Es ist kurz vor Weihnachten. Wir besuchen Bichsel ein letztes Mal, um ihm das Manuskript unseres Gespräches vorzulegen. In seinem Wohnzimmer steht eine Kerze in einem Kranz, ein bisschen Advent. Bichsel liest minutenlang schweigend, dann schaut er auf.
Und?
Na ja, ich war schon besser.
Sie wollen gar nichts ändern?
Es ist etwas lang.
Stimmt, das finden wir auch. Wie feiern Sie eigentlich Ihren Geburtstag?
Ich will ihn nicht feiern, aber ich kann es nicht verhindern. Es wird schlimm werden.
Sie wollen in Ruhe gelassen werden.
Ich will einfach keine Interviews mehr. Es ist mir zu anstrengend. Mich dünkt, dies war mein letztes.
Ist alles gesagt?
Es ist nie alles gesagt.